Zur Ausstellung „Räume“ von Ingrid Schreiber-Schatz
Mit ihrer Ausstellung öffnet Ingrid Schreiber-Schatz unserem Sehen und Empfinden vielfältige Räume in drei und vier Dimensionen, die sich unter anderem aus dem Zusammentreffen von Natur und Architektur ergeben.
So betrachten wir in der Apsis einen Jahreskreis großformatiger Arbeiten auf Leinwand („Naturprozesse“), die in der Mitte den Kontrast zwischen dem intensiven Grün des Sommers und dem Gräulichweiß des Winters ins Licht bringen, während Frühling und Herbst als Übergänge die Wände zur Kirche erhellen.
Schauen wir zunächst auf den „Winter“, dessen Anblick uns von der Einladung vertraut ist und der nicht nur ein Ende, sondern auch den Anfang neuen Werdens in sich birgt. Da ist eine Pflanze, die – in kleinen Segmenten um ein Stämmchen sprossend – sehr alt anmutet, als habe sie seit jeher als erste die Erde kultiviert, wie die Salicorne in den Überschwemmungsgebieten der Meeresküsten oder die Heide in den Geesten. Die übrige Fläche ist durchzogen von filigraner Zeichnung in Kohle und Tusche mit verschiedenen Stärken und Härten, bisweilen übereinander liegend in weichen Krümmungen und harten Winkeln, sich zusammen- und auseinanderziehend und viele Assoziationen anstoßend: ein Gitter von Bewässerungskanälen aus hoher Höhe vielleicht oder ein lockeres Geflecht von Adern für steigende und sinkende Säfte, durchsetzt von Ornamenten aus Spinnennetzen und Glasrissen.
Ein Blick zurück zeigt den „Herbst“, wenn Blatt und Frucht noch von lebendiger Essenz erfüllt sind und wo die sparsamen Linien viele Freiräume zwischen lianenhaften Ranken lassen.
Voraus fällt der Blick auf den „Frühling“, auf bläulichluftige Blütenkränze an feinen Stielen, die aus zartem Wiesengrund in den hellen Himmel streben, in dem ganz leicht einige Quadrate hingeworfen sind, die wir im „Sommer“ wiederfinden, der sich vor diffuser werdenden grünen Kacheln in einer Überlagerung saftiger fingriger und herziger Blätter entfaltet. Überwindet die Ton in Ton gestaffelte Harmonie der Farbe den Gegensatz zwischen Chlorophyll-durchwirkten Zellen und glasierten Keramikfliesen, zwischen biologisch gewachsenen und technisch gefertigten Formen?
Mit der Serie „Glashäuser“ greift Ingrid Schreiber-Schatz diese Aspekte von Vegetation und Konstruktion in konkreten Beispielen aus verschiedenen Städten auf.
Aus der Innensicht wird uns die Ausdehnung der Gebäude über nahezu leere Beete hinweg und die von diffus aufgetragenen Farben vermittelte dunstig-dumpfige Atmosphäre ebenso spürbar wie im Detail die bisweilen gleißend penetrante Sonne in Wedeln und Dolden.
Aus der Beschäftigung mit dem Thema ergab sich für die Künstlerin die weiterführende Frage nach der „Abiogenese“, die die Entstehung des Organischen aus Anorganischem erkundet.
Ingrid Schreiber-Schatz ihrerseits evoziert die Wirkung einer allmählich, aber beständig florierenden Revolution an verlassenen industriellen Orten: Betonboden und Sheddach deuten einen allseits durchlässig gewordenen Raum an, gestützt unter anderem auf einen dünnen Birkenstumpf, aus dem eine gerade Schiene ragt, gestützt auf die Substanz, auf das „darunter Stehende“ des Holzes, das sich in maschinell produziertem Metall fortsetzt.
An anderen Stellen erobern Schlingpflanzen die Verstrebungen, und riesige amorphe Blüten in wässerig vermaltem Acryl breiten sich weich auf dem himmlischen Gewölk einer Wand aus, während die Glasabdeckung in scharfkantige Splitter gesprungen ist, denn Veränderung kann auch harte Brüche bedeuten.
Ein faszinierend-irritierendes Spiel von Fenster-Perspektiven bietet eine mit Aquarell überarbeitete Fotografie („Lichtraum“), in der die rechteckige Gliederung der Scheiben einerseits die kahlen Äste über einer leuchtenden Gartenlandschaft zerteilt, andererseits eine mattweiße Blindheit.
Die darin eingelassenen Reflektionen werden zum Sujet einer dritten Werkgruppe („Reflections“), in der vor allem städtische Kulissen zu komplexen Gefügen von Innen und Außen diffundieren,
Aspekte von Häusern und Straßen werden durch Überblendungen und Unschärfen entfremdet, als ob an einem heißen Sommertag vibrierende Fassaden, Pfeiler und Schilder verschmölzen. Eigentlich Bekanntes gewinnt einen geheimnisvollen Reiz, der uns in die Spiegeltiefen zieht und durch Säulen und Bögen über glänzendes Mosaikpflaster in märchenhafte Unterwasserhöfe entführt.
In den „Transformationen“ ist das Mauerwerk von einem Schleier verschieden farbiger Lasuren überzogen, die den Verbund von Steinen, Ziegeln und Mörtel mehr und mehr auflösen und auslöschen und ihn mit den aufgesetzten Mustern aus Kreisen, Kreuzen und Rechtecken in einen fließenden Teppich der Zeit verwandeln.
Mit ihrer unverwechselbaren Kombination von Malerei und Grafik beleuchtet Ingrid Schreiber-Schatz unser Sein zwischen Natur und Zivilisation, widmet sich der Übergänglichkeit unserer Existenz in dieser Welt und legt uns nahe, darüber nachzudenken, wie wir ihre Kostbarkeit verwalten und gestalten.
© 2020 Dr. Jutta Höfel