Einführung Amédé Ackermann: „Zukunft“
Die Fotografie ist vielleicht diejenige künstlerische Disziplin, die in unserer Zeit unter dem größten Legitimationsdruck steht – denn Fotos machen wir alle, und wir machen sie ständig. Jedes Smartphone hat eine Kamera, deren technische Möglichkeiten Generationen früherer FotografInnen hätte staunen lassen. Draufhalten, knips, fertig ist das Buntbild. Oder auch in Schwarzweiß, für den intellektuellen Touch. Zahllose integrierte Funktionen – Selbstauslöser, Auto-Belichtung, Autofokus, Weißabgleich etc. – machen es vermeintlich möglich, den Augenblick in seiner Vollkommenheit zu erfassen. Wem das nicht reicht, dem steht eine breitgefächerte Palette von Möglichkeiten für die Nachbearbeitung zur Verfügung – Farbfilter, Lichteffekte, vorgefertigte Schablonen optimieren den eingefangenen Moment.
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass es mit der
künstlerischen Fotografie so einfach natürlich nicht ist. Es gibt einen
Unterschied zwischen „knips“ und „Fotografie“.
Wie aber diesen Unterschied erkennen zwischen „Hab ich kurz abgelichtet“
und dem inszenierten Moment, der die Quintessenz der Kunstfotografie ist?
Ehe ich dazu komme, möchte ich Ihnen Amédé Ackermann kurz
vorstellen, denn seine Werke sind der Anlass für diese Frage.
1991 in Neuss geboren, lebt und arbeitet Amédé derzeit in
Kaarst. Sein Studium des Fotodesign hat er in 2012 an der Deutschen Pop Akademie
zu Köln abgeschlossen. Er kann auf eine Reihe von Ausstellungen verweisen und
ist darüber hinaus im Kunstverein Kunst.Neuss e. V. engagiert. 2020 wurde
seine Arbeit mit dem Kunstförderpreis der Stadt Neuss ausgezeichnet.
Nun also zum Unterschied zwischen „Hab ich kurz abgelichtet“ und
der Kunstfotografie.
Fotografieren können heißt, sehen können. Das klingt banal, ist
es aber nicht. Denn Fotografieren können heißt, sehen können, und dann das
Gesehene sichtbar machen – durch Bildmittel wie Perspektive, Ausschnitt
etc., aber auch durch das digitale Nachbearbeiten verdichtet der Kunstfotograf,
was er sieht – und vor allem, wie er es sieht.
Eine Kunst-Fotografie erkennen können heißt, sehen können. Das
klingt banal, ist es aber nicht. Denn, eine Kunst-Fotografie erkennen können,
heißt, sehen, was sichtbar gemacht werden soll. Und das ist selbst schon
beinahe wieder eine Kunst. Warum?
Die künstlerische Fotografie ist vielleicht die anspruchsvollste
Form des ästhetischen Ausdrucks – weil sie so selbstverständlich geworden ist.
Eine wahre Sintflut von Fotografien rauscht jeden Tag über uns hinweg –
Werbeplakate, Kataloge, WhatsApp, und da waren wir noch gar nicht auf
Instagram. Fotos sind überall, und jeder besitzt eine zahllose Menge davon. Das
Foto ist längst zum Massenartikel geworden. Vielleicht auch, weil man sein
„kulturelles Potential“ nicht auf den ersten Blick erkennt – selbst das der
echten Kunst-Fotografie.
Ein Ölgemälde ist ganz fraglos ein Gemälde, selbst aus Laienhand
erkennbar ein Stück Kultur – auch die ungeübte Betrachterin erkennt die
Farbspuren auf der Leinwand, den bearbeiteten Marmor oder Beton oder den Druck
auf Bütten als ein Artefakt. Die feinen Hinweise darauf aber zu erkennen, was
in einem Foto sichtbar gemacht werden soll – dafür braucht man ein geschultes
Auge. Fotografien sind wir nämlich geneigt, vorbehaltlos zu glauben – sie geben
vor, dokumentarisch zu sein, sagen uns „Das ist so.“
„Das ist so“ wird bei Amédé Ackermann zu einem „So könnte es
sein“. Ebenso wie die Zukunftvision, die er uns in seiner fotografischen Serie
„3030“ sichtbar macht, so sein könnte. Der erste Hinweis auf ein künstlerisches
Artefakt.
Auch Amédé Ackermann bearbeitet seine Bilder. Vorher, aber auch
nachher – das ist sein künstlerischer Ansatz. Und genau hier liegt der Unterschied
von Hab ich kurz abgelichtet und künstlerisch anspruchsvollem Fotografieren.
Der Moment, den die Fotografie auffängt, ist nur das Rohmaterial. Der
künstlerische Blick manifestiert sich in der Wahl der Perspektive, der
Komposition und der Belichtung – gleich vor Ort oder eben in der anschließenden
Bearbeitung.
Die Arbeiten, die Sie hier sehen, sind Fotomontagen, digital
nachbearbeitete Schüsse. Amédé entnimmt einzelne Teile – oft Architekturen,
aber auch Darstellungen von Menschen und Tieren – aus ihrer ursprünglichen, man
könnte sagen „natürlichen“ Umgebung, und versetzt sie in einen neuen
Bildzusammenhang. Bis zu zehn Einzelfotos verbindet er so zu etwas Neuem – und
formuliert dabei physikalische Gesetzmäßigkeiten für diese neue Bildwelt, etwa
die Perspektive oder den Fall von Licht und Schatten. Diese müssen nicht naturalistisch
sein, aber sie müssen stimmig sein. Das bedeutet, sie erschaffen ein Narrativ,
das funktioniert. Und das ist es, was den künstlerischen Blick ausmacht: Das
Verschieben der Parameter zugunsten einer ästhetischen Absicht.
Gleich hinter mir, in der Apsis, finden Sie die Arbeit „Paulus
2“. Im Narrativ der hier ausgestellten Serie 3030 – BACK ON EARTH, und im
optischen Zusammenklang mit dem sterndurchsetzen Dunkel des Weltalls
interpretieren wir das Konstrukt, das wir erblicken, als Raumschiff. Wenn wir wissen,
dass es sich dabei „in Wahrheit“ um die Außenansicht der Weckhovener St.
Paulus-Kirche handelt, entwickeln wir ein Verständnis für Amédés Arbeitsweise
und das, was mit dem „künstlerischen Blick“ der Fotografie gemeint ist.
„Wenn wir nochmal neu anfangen könnten, die Erde zu besiedeln,“
fragt Amédé, „würden wir es wieder so verbocken?“ Die Serie führt uns eine
Zukunftsutopie vor, ein Gedankenexperiment, in dem der Mensch als
Sternenreisender unseren blauen Planeten betritt und ihn im wahrsten Sinne des
Wortes sieht wie zum ersten Mal. Er hat jetzt die Chance, ihn als das Geschenk
zu erkennen, das er ist: ein Ort, der ihm Zuflucht und eine Lebensgrundlage
bietet – den Nährboden einer Zivilisation: eine Zukunft.
Dieser Gedanke fügt sich in die Zeit des Kirchenjahres, zu der
wir hier zusammenkommen: Jetzt brechen seine letzten Wochen an, denn schon im
Advent, nicht ganz entsprechend unserem Kalender, beginnt das neue Kirchenjahr.
Ein Ende beinhaltet auch immer einen neuen Anfang – Zeit also, zu gedenken und
Zeit zu be-denken: Wie möchten wir mit diesem Geschenk umgehen, das uns gemacht
ist – unserem blauen Planeten, einem Lebensraum von verschwenderischer
Schönheit, in dem man durchaus etwas Göttliches erkennen kann?
Kein Zufall also, dass das Raumschiff „eigentlich“ die Außenwand
einer Kirche ist: Glauben als Metapher für den Anfang. Glauben als Metapher
einer – auch gedanklichen – Reise.
Was begegnet uns in 3030 – BACK ON EARTH? Eine Kirche als
Raumschiff. Eine blühende Landschaft unter einer Atmosphärenkuppel. In der
Spiegelung seines Helmvisiers wird die Landschaft, die ihn umgibt, zum Antlitz
des Astronauten –zu einem Teil von ihn, zu seiner Identität.
In seinen Bildwelten setzt Amédé also ganz bewusst auch
fantastische Akzente – und das Fantastische (zu dem im Übrigen eben auch die
Science Fiction zählt) ist nichts anderes als die metaphorische Reformulierung
des Realen, das bildliche Kondensat der Wirklichkeit. Amédé sagt selbst: „Ich
liebe es, neue Welten zu erschaffen und versuche durch meine Bilder immer etwas
zu erzählen.“
Ich möchte Sie einladen, diese Welten zu besuchen, die Amédé uns
in seinen Bildern zugänglich macht. Seien Sie wie dieser Astronaut (Sie finden
ihn im Werk DAY ONE) und betrachten Sie das, was Ihnen so vertraut entgegenscheint,
mit den Augen eines Sternenreisenden – als hätten Sie es nie zuvor gesehen.
Lassen Sie sich überraschen, was Amédé Ihnen zu zeigen vermag, wenn Sie das
Visier des Alltagsblicks einmal hochklappen. Und be-denken Sie dabei auch den
spannenden Titel dieses Werkes. Über den ersten Tag der Schöpfungsgeschichte heißt
es unter anderem: „Gott schied das Licht von der Finsternis“ (Genesis 1,5). In
Amédé Ackermanns DAY ONE ist es bereits Licht. Es geht nun aber darum, in
diesem Licht auch etwas zu erkennen – Tag eins vielleicht einer neuen Geschichte
für diese unsere Schöpfung.
Vielen Dank.
Dr. Laura Flöter