Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Von Gott geliebte Menschen,
am vergangenen Donnerstag waren hier die Kinder der zweiten
Klasse in der Kirche. Wir hatten Schulgottesdienst. Sie waren zum ersten Mal
da. Ich habe gefragt: Was fällt euch auf in dieser Kirche? Und sehr schnell
richtete sich alle Aufmerksamkeit der Kinder auf die Kunstwerke, und besonders
auf das Kunstwerk, das jetzt in der Apsis hängt.
„Ist das eine Gottesanbeterin?“, fragte das eine Kind. – „Nein,
das ist ein Monster!“, sagte ein anderes Kind. Ich wollte ja eigentlich noch
über den Altartisch, das Kreuz und die Bibel sprechen, aber die Kinder waren
ganz auf die Kunstwerke konzentriert.
Die Idee: eine Gottesanbeterin! Gefällt mir gut.
Aber noch besser gefällt mir, was die Kinder der dritten und
vierten Klassen in der vergangenen Woche sagten. Ich habe die Kinder gefragt,
was sie in der Kunst sehen. Das mache ich jedes Mal, wenn‘s eine neue
Ausstellung gibt. Und ein Kind fing sofort an: einen Marienkäfer! Ein anderes
Kind: ein Schwein, das sich als Giraffe verkleidet hat! Eine Giraffe, die sich
als Marienkäfer verkleidet hat! Eine Maus, die sich als Schwein verkleidet hat!
– Alle Stofftiere, die die Künstlerin verarbeitet hat, wurden sofort
identifiziert. Aber: die Kinder haben auch sofort gesehen, dass mit den Tieren
etwas geschehen ist: die Tiere haben sich verwandelt.
Und mir war mit einem Schlag klar, warum dieses Kunstwerk in der
Kirche hängt.
Verwandlung ist in der Kirche ein großes Thema.
Manchmal singen wir: Du verwandelst meine Trauer in Freude, du
verwandelst meine Ängste in Mut, du verwandelst meine Sorgen in Zuversicht,
lieber Gott, du verwandelst mich!
Ich glaube, dass das Gebet der Ort ist, an dem wir durch Gott verwandelt werden.
Mit dem Beten haben wir als Protestanten ja so unsere ganz eigene Tradition.
Wenn ich bei meinen muslimischen Nachbarn zu Besuch bin, die
sehr gerne über ihren Glauben sprechen, dann möchte die immer sehr gerne
wissen, wie wir Christen und Christinnen beten. „Betet ihr auch fünfmal am
Tag?“ – „Wir beten auf Arabisch. In welcher Sprache betet ihr?“
Dann fange ich an, umständlich zu erklären, dass in den Klöstern
auch fünfmal gebetet wird, dass das für Christen und Christinnen zu Hause aber
anders ist.
Wenn wir auf Konfi-Fahrt sind, dann beten wir vor jeder
Mahlzeit. Und Sie zu Hause tun das wahrscheinlich auch. Manchmal – vielleicht
nicht immer – aber halt doch, wenn Sie dran denken.
Wenn wir auf Konfi-Fahrt sind, dann fangen wir den Tag an mit
einem kurzen Gebet, und ganz am Ende des Tages sprechen wir ein Gebet. Sie zu
Hause tun das vielleicht ebenfalls: morgens einen Moment der Dankbarkeit, und
am Abend vor dem Schlafengehen den Tag mit allem, was gewesen ist, noch einmal
zu Gott bringen.
Es gibt auch Bücher mit ausformulierten Gebeten. Die können uns
dabei helfen, Worte zu finden und die Konzentration, die uns guttut. Aber
meistens beten wir mit freien Worten, spontan.
Und dann ist es nicht einfach, immer die rechten Worte zu
finden. Und in einer Welt, in der hunderttausend Dinge uns ablenken wollen,
fällt es manchmal schwer, unser Herz ganz auf Gott zu richten und unseren Geist
zu konzentrieren, so dass wir beten können.
Aber doch ist das Beten ganz wichtig im Leben eines Christen, einer Christin. Denn im Gebet will Gott uns begegnen. Und das kann uns verwandeln: die Sorgen in Zuversicht, die Ängste in Mut. Und unsere inneren Stürme können zur Ruhe kommen, und wir können Frieden finden.
Niemand von uns braucht sich dafür zu schämen, wenn es häufig nicht klappt mit dem Beten: Auch für die Jünger Jesu war das schon so. Darum sagt Jesus ihnen, wie man beten soll – und jetzt zitiere ich aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 6:
5»Wenn ihr betet,
macht es
nicht wie die Scheinheiligen:
Sie stellen
sich zum Beten gerne
in die
Synagogen und an die Straßenecken –
damit die
Leute sie sehen können.
Amen, das
sage ich euch:
Sie haben
damit ihren Lohn schon bekommen.
6Wenn du betest,
geh in dein
Zimmer und schließ die Tür.
Bete zu
deinem Vater, der im Verborgenen ist.
Dein Vater,
der auch das Verborgene sieht,
wird dich dafür belohnen.«
Was will Jesus uns damit sagen?
Ich glaube, dass es für uns im Gebet einzig und allein um
unseren Kontakt zu Gott geht. Es geht nicht darum, dass wir uns selbst oder
anderen etwas beweisen. Sondern es geht darum, dass wir uns mit unseren
Erfahrungen und unserem ganzen Erleben Gott anvertrauen. Mit unserer ganzen
Freude, unserem Dank, und auch mit unseren Sorgen und Ängsten. Einfach mit
allem. Gott sieht auch das Verborgene. Gott wohnt im Verborgenen.
Und da, wo wir unsere verborgenen Ängste zu Gott bringen, können
diese auch verwandelt werden!
Ich glaube, dass wir Menschen uns manchmal etwas über uns selbst
vormachen. Wir umgeben uns mit Illusionen, wir bauen ein Bild von uns selbst,
das voller Träume und Wünsche ist, das aber wenig mit der Realität zu tun hat.
Und ganz häufig wollen wir nicht wahrhaben, wie es wirklich in uns aussieht.
Wenn wir beten, dann will uns Gott zu dem befreien, was wirklich
ist. Gott sieht das Verborgene, auch wenn wir es selber gerade nicht sehen
wollen.
Jesus sagt: „Wenn du betest, dann geh in dein Zimmer und
schließt die Tür. Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist.“ – Das können
wir einerseits ganz wörtlich nehmen: wenn wir beten, dann sollen wir einen
ruhigen Ort aufsuchen, in Abgeschiedenheit, wo uns nichts ablenkt.
Wir können das aber auch im Übertragenen verstehen: Jesus
fordert uns auf, den Ort in uns selbst aufzusuchen, der vor den Augen aller
anderen Menschen verborgen ist: die Sorgen, die wir niemals vor anderen zugeben wollen – weil wir ja stark sein wollen; oder die Trauer, die wir uns
selber nicht eingestehen, weil sie viel zu sehr schmerzt; oder vielleicht auch
unser persönliches Scheitern, das wir nur mit Mühe zu geben können.
An diesen verborgenen Orten will Gott uns begegnen. Genau dort
sind wir zutiefst gesehen und erkannt. Genau dort will Gott uns verwandeln.
Jesus spricht noch weiter, und jetzt zitiere ich wieder aus Matthäus 6:
7»Sprecht eure Gebete nicht gedankenlos vor euch hin
wie die
Heiden!
Denn sie
meinen,
ihr Gebet
wird erhört, weil sie viele Worte machen.
8Macht es nicht so wie sie!
Denn euer
Vater weiß, was ihr braucht,
noch bevor
ihr ihn darum bittet.
Hier ist die Botschaft Jesu ganz deutlich: Beim Beten zählen
nicht die vielen Worte. Und es geht auch nicht um möglichst schöne Worte. Und
schon gar nicht um Geplapper. Als ob wir von Gott bekommen, was wir wollen,
wenn wir ihn nur lange genug bequatschen.
Was demgegenüber wichtig ist, ist unsere Einstellung, mit der
wir beten, unsere Konzentration, die Art, wie wir unser Herz vor Gott öffnen.
Gott sieht, was im Verborgenen ist, und er weiß, was wir brauchen, noch bevor
wir ihn darum bitten.
Und weil Jesus weiß, wie häufig wir um Worte verlegen sind, schenkt er uns das Gebet, das wir das Vaterunser nennen. Ich zitiere wieder aus Matthäus 6:
9»So sollt ihr beten:
Unser Vater
im Himmel,
dein Name
soll geheiligt werden.
10Dein Reich soll kommen.
Dein Wille
soll geschehen.
Wie er im
Himmel geschieht,
so soll er
auch auf der Erde Wirklichkeit werden.
11Gib uns heute unser tägliches Brot.
12Und vergib uns unsere Schuld –
so wie wir
denen vergeben haben,
die an uns
schuldig geworden sind.
13Und stell uns nicht auf die Probe,
sondern
rette uns vor dem Bösen.
[...]
14Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen
vergebt,
dann wird
euer Vater im Himmel euch auch vergeben.
15Wenn ihr den Menschen aber nicht vergebt,
dann wird
euer Vater euch
eure
Verfehlungen auch nicht vergeben.«
Das Vaterunser wird immer wieder als eine Schule des Gebets
bezeichnet. Wenn man den Text des Vaterunsers meditiert und immer wieder
meditiert, dann kann man das Beten lernen. Man kann dann ganz viel lernen über
die Haltung des Gebets, über die Weise, wie wir Gott ansprechen können, über
die Verheißung, die auf jedem Gebet liegt, aber ganz konkret auch über Inhalte,
für die wir beten können.
Einen der Inhalte hebt Jesus hervor: Vergebung. Wenn wir beten,
dann geht es immer auch um Vergebung und Neuanfang.
Vergebung ist für viele Menschen ein schwieriges Thema. Denn manchmal ist es zu schrecklich, was wir einander antun.
Wir sehen in diesen Tagen schreckliche Dinge in der Welt
geschehen. Wie die Mächtigen dieser Erde zu Autokraten werden, die
erbarmungslos Menschen in den Tod jagen.
Wenn ich an den Krieg in der Ukraine denke oder an den Krieg in
Gaza, dann bleibt mir manchmal die Spucke weg, und ich weiß ganz wörtlich nicht,
was ich noch beten soll.
Die Geschichte von dem Volk Israel, das sich ein goldenes Kalb
gemacht hat, weil die Menschen ohne Mose den Kontakt zu dem befreienden Gott verloren
haben [Anm.: der Text der Lesung in diesem Gottesdienst] – diese Geschichte ist
für mich heute von einer ganz klaren Symbolik: Dieser Tanz um das goldene Kalb
steht für die Verehrung der Symbole von Macht und Reichtum und Überlegenheit.
Auch in unserer Zeit vollführen viele Menschen einen solchen Tanz. Da werden
Politiker verehrt, weil sie laut brüllen und viel versprechen.
Wie schaut Gott im Himmel auf diese Menschen?
Leidet Gott? Tobt er vor Zorn? Hat er sich von uns abgewendet?
Wirbt er um sein Erbarmen?
Wie dem auch sei – ich denke, dass es an uns Christen und
Christinnen ist, wie Mose zu flehen und zu beten und Gott an seine Verheißung
zu erinnern:
Willst du denn, dass die Menschen denken, dass du Israel umsonst
aus Ägypten herausgeführt hast? Willst du denn, dass das ganze Ringen um
Freiheit und Befreiung für die Katz war? Willst du denn, dass die Menschen, von
denen du jeden einzelnen liebhast und den Namen kennst, zerstört werden und mit
Füßen getreten? Das kann es doch nicht sein.
Komm in dieser Welt und schenke uns einen Neuanfang. Verwandle
diese Welt durch die Kraft der Vergebung, verwandle uns selber und durchdringe uns mit der Kraft der Vergebung.
Auf dass die Maus zu einem Löwen wird, und ein Wolf zu einem Lamm.
Lasst uns darum beten, dass wir alle zum Werkzeug des Friedens
werden dürfen.
Lasst uns uns selber und unsere Sorgen um diese Welt zu Gott
bringen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Pfarrerin
Dr. Maria Pfirrmann
Sonntag Rogate, 25. Mai 2025