Meine Damen und
Herren, werte Frau Happe,
„Kunst in der Apsis“
heißt unsere seit zwei Jahrzehnten stattfindende Ausstellungsreihe. Der Name
bezieht sich auf die Lokalität, auf die Apsis. Letztlich aber handelt es sich
um Kunst in der Kirche. Kunst, die sich abheben soll von dem, was über viele Jahrzehnte
in Kirchen üblich war:
– anspruchslose
Fenster,
– Kunsthandwerk statt
Kunstwerke
oder gar
– konsumierbare
Jesus- oder Engeldarstellungen, die nicht anecken.
Kunst, das steht
dahinter, soll ja nicht verschrecken, sondern bestenfalls die kirchliche Lehre
veranschaulichen oder auch nur eine heile Welt vermitteln.
Sie erinnern sicher
die Kritik von Kardinal Meissner am Glasfenster von Gerhard Richter im Kölner
Dom. Der Erzbischof hatte wohl glatt übersehen, dass dieses Fenster in seiner
Farbigkeit ein tolles Gleichnis für die Diversität der Schöpfung ist. Ja,
Bilder können zu Gleichnissen werden, nicht nur in den Reden des Jesus aus
Nazareth.
Klar. Verschrecken
muss Kunst in der Kirche nicht. Aber aufschrecken darf sie meines Erachtens
schon. So, wie es im säkularem Raum ja gang und gäbe ist.
„Kunst in der Apsis“
richtet sich thematisch am Kirchenjahr aus. Eines der ersten Kunstwerke zur
Passionszeit war 2003 ein Kreuz des Meerbuscher Aktionskünstlers Helmut
Martin-Myren. Dort, wo längs- und Querbalken sich kreuzen, steckte eine
Granate. Und statt des Dornenkranzes hing ein Maschinengewehrgurt am Kreuz. Die
Marterwerkzeuge der Kriegsherren von heute, die leider effektiver sind als
Dornen, Nägel und Hammer vor 2000 Jahren auf Golgatha.
„Frieden ?“ hatte Martin-Myren
sein Werk genannt. Er wollte warnen vor dem unsäglichem Leid, das mit
kriegerischem Handeln verbunden ist. Zeigte nicht das Leiden an sich, sondern
das, womit Menschen Leid über Mitmenschen bringen.
Das Kreuz war Jahre
vor 2003 entstanden. Und war leider, von Frau Blauth und mir damals nicht
intendiert, hochaktuell. Der Irakkrieg hatte gerade begonnen.
Auch Ihre Bilder,
werte Frau Happe, sind hochaktuell. Zu anderen Zeiten wirken sie sicher
anders als heute, da im Osten Europas ein unvorstellbarer Krieg tobt.
Unvorstellbar, weil wir uns nicht vorstellen konnten oder wollten, dass es in
Europa noch einmal zu einem Angriffs- und Eroberungskrieg kommen könnte. Und
unvorstellbar, weil wir in den Medien das Leid zwar sehen und hören, Empathie
empfinden, auch mitweinen und mitklagen können. Aber das, was die Menschen dort
erleiden, das übersteigt unsere Vorstellungskraft.
Auch Ihre Bilder,
Frau Happe, sind vor Jahren entstanden. Sie visualisieren dennoch auf
künstlerische Weise das, was Menschen in der Ukraine heute erleiden.
Dunkel, schwarz wie
der Tod, ist ein Großteil der Fläche des Bildes hinter mir. Eine Gestalt liegt
darauf, ob Mann oder Frau ist nicht zu erkennen. „Lagerung“ nennen Sie, Frau
Happe, das Bild. Ich habe Sie leider nicht gefragt, was sie darunter verstehen.
Mir fällt primär „Grablege“ ein. Das, was in jedem Krieg tausendfach
sein muss.
Bilder verwickeln
einen in einen Dialog. Und je nach Zeit variiert das, was sie auslösen. So ist
die Interpretation von Christiane Vielhaber in Ihrem Katalog eben eine andere
und damit nicht weniger richtig. Sie beschreibt einen Körper, der „noch sehr
lebendig wirkt . . . und weich aufgefangen wirkt in einem dunklen Bett,
gestaltet aus gerissener Dachpappe.“
Aber Dachpappe kann
auch lichterloh brennen. Aus Dachpappe und Plastikplanen bestehen oft genug
Behelfsunterkünfte, wenn das Haus zerbombt ist.
Wenden wir den Blick
nach links, eine Pietà, gestaltet unter anderem aus Pergamin, das auch als
Drachenpapier bekannt ist. Die Kontur des Toten mit dicken schwarzen Linien
gezogen, die trauernde Maria eher schemenhaft grau.
Genau so ist das. Wer
vom Leid getroffen ist, wem der Tod einen wichtigen Menschen genommen hat, wer
jäh zurückgelassen bleibt, der fühlt sich nur noch wie ein Schatten seiner
selbst. Dem fehlt jedwede Lebensenergie. Dem ist es furchtbar anstrengend, den
Leichnam zu halten. Von dem man ja nicht wahrhaben will, dass er nicht mehr
aufsteht und nicht einfach mit einem weiter zusammenlebt.
Genau so muss es doch
den russischen Müttern vorkommen, wenn sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes
bekommen, der wähnte, nur in ein Manöver zu ziehen. Und wie zynisch muss das
auf sie wirken, wenn Putin ihnen mit der Urne umgerechnet 105.000 Euro als eine
Art Heldengeld zahlt. Nein, Menschenleben kann man nicht in Geld aufwiegen. Mit
Geld können er und seine Entourage sich auch nicht freikaufen vom Leid, das sie
über andere bringen. Leid kann ein Fatum sein, sicher. Aber hier ist es von
Menschen gemacht und wäre vermeidbar gewesen.
Das Motiv der Pietà
ist im 14. Jahrhundert aufgekommen. Als man sich verstärkt dem Leiden Jesu am
Kreuz und dem Mitleiden seiner Mutter zuwandte. In der leidenden Maria konnte
man sich wiederfinden und sich getröstet fühlen. Ob das heute noch so ist,
vermag ich nicht zu sagen. Aber diese Pietà lässt mich an die Männer und Frauen
in der Ukraine und Russland denken, die um ihre Angehörigen trauern.
Unschuldige, die nicht den Tod auf sich genommen haben wie Jesus von Nazareth,
sondern deren Leben willkürlich ausgelöscht wurde.
Frau Happe, Ihre hier
ausgestellten Bilder sind Teil Ihres „Erfurter Zyklus“. Der Name bezieht sich
auf den „Erfurter Weg“ in Düsseldorf, an dem eine Förderschule lag, in der
Sie unterrichtet haben. Sie sagten aber auch, dass der erste Amoklauf in Deutschland
Sie zu diesem Namen bewogen hat. 2002 fand er in Erfurt statt, fünfzehn meist
junge Menschen fanden damals den Tod.
Sie haben Ihre Bilder
also nicht in steriler Umgebung geschaffen. Es sind sicherlich keine
politischen Bilder, aber gesellschaftspolitisch verankert sind sie doch. Sie
zeigen Menschen in ihrer Verlorenheit (zum Beispiel im Saal nebenan das Bild
„Kiste“), aber auch in ihrer Erlösungsbedürftigkeit.
„Aus der Tiefe“ ist
der Titel der Ausstellung, die wir heute eröffnen. „Aus der Tiefe“, das sind
die Anfangsworte des 130. Psalms, der in einem jetzt oft gesungenen Kirchenlied
neu formuliert wurde. Die 3. Strophe lautet:
Aus der
Tiefe rufe ich zu dir: Herr, achte auf mein Flehen,
aus der
Tiefe rufe ich zur dir: Ich will nicht untergehen.
Nach Joh 11 rufen
Maria und Martha in tiefer Sorge um die Gesundheit ihres Bruders Jesus aus
Nazareth zu Hilfe. Er möge Lazarus heilen. Aber als er endlich ankommt, ist
Lazarus bereits bestattet. Dennoch, obwohl der Leichnam schon stinkt, wie es
heißt, geht Jesus zur Grabeshöhle und ruft: Lazarus, komm heraus. Und der
Verstorbene kommt heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein
Gesicht ist verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die
Binden und lasst ihn gehen!
Schon beim ersten
Blick auf das obere Bild in der Apsis assoziierte ich diese Geschichte. Eine
Gestalt, die sich befreit. Noch sind die Arme gebunden, aber sie recken sich
schon siegreich nach oben. Die Binden, die Fesseln fallen ab. Der Schritt ins
Freie, ins Helle wird möglich. Kein krummer Gang mehr, sondern ein
aufgerichtetes, ja ein aufrechtes Gehen steht bevor.
Vermutlich haben Sie,
Frau Happe, nicht an Lazarus gedacht. „Vitus“ haben Sie Ihr Bild genannt.
„Vitus“, das ist die im Lateinischen nicht vorhandene maskuline Form von
„vita“. Wenn Sie wollen, eine frühe Form von Gendern. „Vitus“ wird meist
übersetzt mit „der Lebende“. Von daher tue ich mit meiner Interpretation Ihrem
Bild wohl keine Gewalt an.
Johannes beschreibt
eine wundersame Totenerweckung. Aber letztlich ist es ein Gleichnis. So, wie
dieses Bild. Ja, Lazarus ist irgendwann dann doch noch gestorben. Aber
Auferstehung ins Leben vor dem Tod ist möglich, sagt uns diese biblische
Geschichte. Vertraut darauf.
Es ist eine
Hoffnungsgeschichte. Ihr Bild, Frau Happe, ist ein Hoffnungsbild. Ein
Lichtschimmer in dunklen Zeiten. Ein österliches Bild trotz des schwarzen
Quadrats. Es weist über die Passionszeit hinaus auf Ostern.
Sie, Frau Blauth,
haben als Kuratorin wieder einmal ein gutes Gefühl, ein gutes Händchen für eine
Ausstellung in der Passionszeit bewiesen. Die Besucher werden es Ihnen
hoffentlich danken. Und Ihnen, Frau Happe, sage ich Dank, dass Sie uns in
schwierigen Zeiten aufrüttelnde, aber eben auch ermutigende Bilder zeigen.
Pfarrer Falk Neefken, Superintendent a. D.