Mittwoch, 16. März 2022

Gisela Happe | Aus der Tiefe – Einführungsrede von Falk Neefken

 




Meine Damen und Herren, werte Frau Happe,

„Kunst in der Apsis“ heißt unsere seit zwei Jahrzehnten stattfindende Ausstellungsreihe. Der Name bezieht sich auf die Lokalität, auf die Apsis. Letztlich aber handelt es sich um Kunst in der Kirche. Kunst, die sich abheben soll von dem, was über viele Jahrzehnte in Kirchen üblich war:

– anspruchslose Fenster,

– Kunsthandwerk statt Kunstwerke

oder gar

– konsumierbare Jesus- oder Engeldarstellungen, die nicht anecken.

Kunst, das steht dahinter, soll ja nicht verschrecken, sondern bestenfalls die kirchliche Lehre veranschaulichen oder auch nur eine heile Welt vermitteln.

Sie erinnern sicher die Kritik von Kardinal Meissner am Glasfenster von Gerhard Richter im Kölner Dom. Der Erzbischof hatte wohl glatt übersehen, dass dieses Fenster in seiner Farbigkeit ein tolles Gleichnis für die Diversität der Schöpfung ist. Ja, Bilder können zu Gleichnissen werden, nicht nur in den Reden des Jesus aus Nazareth.

Klar. Verschrecken muss Kunst in der Kirche nicht. Aber aufschrecken darf sie meines Erachtens schon. So, wie es im säkularem Raum ja gang und gäbe ist.

„Kunst in der Apsis“ richtet sich thematisch am Kirchenjahr aus. Eines der ersten Kunstwerke zur Passionszeit war 2003 ein Kreuz des Meerbuscher Aktionskünstlers Helmut Martin-Myren. Dort, wo längs- und Querbalken sich kreuzen, steckte eine Granate. Und statt des Dornenkranzes hing ein Maschinengewehrgurt am Kreuz. Die Marterwerkzeuge der Kriegsherren von heute, die leider effektiver sind als Dornen, Nägel und Hammer vor 2000 Jahren auf Golgatha.

„Frieden ?“ hatte Martin-Myren sein Werk genannt. Er wollte warnen vor dem unsäglichem Leid, das mit kriegerischem Handeln verbunden ist. Zeigte nicht das Leiden an sich, sondern das, womit Menschen Leid über Mitmenschen bringen.

Das Kreuz war Jahre vor 2003 entstanden. Und war leider, von Frau Blauth und mir damals nicht intendiert, hochaktuell. Der Irakkrieg hatte gerade begonnen.

Auch Ihre Bilder, werte Frau Happe, sind hochaktuell. Zu anderen Zeiten wirken sie sicher anders als heute, da im Osten Europas ein unvorstellbarer Krieg tobt. Unvorstellbar, weil wir uns nicht vorstellen konnten oder wollten, dass es in Europa noch einmal zu einem Angriffs- und Eroberungskrieg kommen könnte. Und unvorstellbar, weil wir in den Medien das Leid zwar sehen und hören, Empathie empfinden, auch mitweinen und mitklagen können. Aber das, was die Menschen dort erleiden, das übersteigt unsere Vorstellungskraft.

Auch Ihre Bilder, Frau Happe, sind vor Jahren entstanden. Sie visualisieren dennoch auf künstlerische Weise das, was Menschen in der Ukraine heute erleiden.

Dunkel, schwarz wie der Tod, ist ein Großteil der Fläche des Bildes hinter mir. Eine Gestalt liegt darauf, ob Mann oder Frau ist nicht zu erkennen. „Lagerung“ nennen Sie, Frau Happe, das Bild. Ich habe Sie leider nicht gefragt, was sie darunter verstehen. Mir fällt primär „Grablege“ ein. Das, was in jedem Krieg tausendfach sein muss.

Bilder verwickeln einen in einen Dialog. Und je nach Zeit variiert das, was sie auslösen. So ist die Interpretation von Christiane Vielhaber in Ihrem Katalog eben eine andere und damit nicht weniger richtig. Sie beschreibt einen Körper, der „noch sehr lebendig wirkt . . . und weich aufgefangen wirkt in einem dunklen Bett, gestaltet aus gerissener Dachpappe.“

Aber Dachpappe kann auch lichterloh brennen. Aus Dachpappe und Plastikplanen bestehen oft genug Behelfsunterkünfte, wenn das Haus zerbombt ist.

Wenden wir den Blick nach links, eine Pietà, gestaltet unter anderem aus Pergamin, das auch als Drachenpapier bekannt ist. Die Kontur des Toten mit dicken schwarzen Linien gezogen, die trauernde Maria eher schemenhaft grau.

Genau so ist das. Wer vom Leid getroffen ist, wem der Tod einen wichtigen Menschen genommen hat, wer jäh zurückgelassen bleibt, der fühlt sich nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Dem fehlt jedwede Lebensenergie. Dem ist es furchtbar anstrengend, den Leichnam zu halten. Von dem man ja nicht wahrhaben will, dass er nicht mehr aufsteht und nicht einfach mit einem weiter zusammenlebt.

Genau so muss es doch den russischen Müttern vorkommen, wenn sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes bekommen, der wähnte, nur in ein Manöver zu ziehen. Und wie zynisch muss das auf sie wirken, wenn Putin ihnen mit der Urne umgerechnet 105.000 Euro als eine Art Heldengeld zahlt. Nein, Menschenleben kann man nicht in Geld aufwiegen. Mit Geld können er und seine Entourage sich auch nicht freikaufen vom Leid, das sie über andere bringen. Leid kann ein Fatum sein, sicher. Aber hier ist es von Menschen gemacht und wäre vermeidbar gewesen.

Das Motiv der Pietà ist im 14. Jahrhundert aufgekommen. Als man sich verstärkt dem Leiden Jesu am Kreuz und dem Mitleiden seiner Mutter zuwandte. In der leidenden Maria konnte man sich wiederfinden und sich getröstet fühlen. Ob das heute noch so ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber diese Pietà lässt mich an die Männer und Frauen in der Ukraine und Russland denken, die um ihre Angehörigen trauern. Unschuldige, die nicht den Tod auf sich genommen haben wie Jesus von Nazareth, sondern deren Leben willkürlich ausgelöscht wurde.

Frau Happe, Ihre hier ausgestellten Bilder sind Teil Ihres „Erfurter Zyklus“. Der Name bezieht sich auf den „Erfurter Weg“ in Düsseldorf, an dem eine Förderschule lag, in der Sie unterrichtet haben. Sie sagten aber auch, dass der erste Amoklauf in Deutschland Sie zu diesem Namen bewogen hat. 2002 fand er in Erfurt statt, fünfzehn meist junge Menschen fanden damals den Tod.

Sie haben Ihre Bilder also nicht in steriler Umgebung geschaffen. Es sind sicherlich keine politischen Bilder, aber gesellschaftspolitisch verankert sind sie doch. Sie zeigen Menschen in ihrer Verlorenheit (zum Beispiel im Saal nebenan das Bild „Kiste“), aber auch in ihrer Erlösungsbedürftigkeit.

„Aus der Tiefe“ ist der Titel der Ausstellung, die wir heute eröffnen. „Aus der Tiefe“, das sind die Anfangsworte des 130. Psalms, der in einem jetzt oft gesungenen Kirchenlied neu formuliert wurde.  Die 3. Strophe lautet:

Aus der Tiefe rufe ich zu dir: Herr, achte auf mein Flehen,

aus der Tiefe rufe ich zur dir: Ich will nicht untergehen.

 

Nach Joh 11 rufen Maria und Martha in tiefer Sorge um die Gesundheit ihres Bruders Jesus aus Nazareth zu Hilfe. Er möge Lazarus heilen. Aber als er endlich ankommt, ist Lazarus bereits bestattet. Dennoch, obwohl der Leichnam schon stinkt, wie es heißt, geht Jesus zur Grabeshöhle und ruft: Lazarus, komm heraus. Und der Verstorbene kommt heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht ist verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen!

Schon beim ersten Blick auf das obere Bild in der Apsis assoziierte ich diese Geschichte. Eine Gestalt, die sich befreit. Noch sind die Arme gebunden, aber sie recken sich schon siegreich nach oben. Die Binden, die Fesseln fallen ab. Der Schritt ins Freie, ins Helle wird möglich. Kein krummer Gang mehr, sondern ein aufgerichtetes, ja ein aufrechtes Gehen steht bevor.

Vermutlich haben Sie, Frau Happe, nicht an Lazarus gedacht. „Vitus“ haben Sie Ihr Bild genannt. „Vitus“, das ist die im Lateinischen nicht vorhandene maskuline Form von „vita“. Wenn Sie wollen, eine frühe Form von Gendern. „Vitus“ wird meist übersetzt mit „der Lebende“. Von daher tue ich mit meiner Interpretation Ihrem Bild wohl keine Gewalt an.

Johannes beschreibt eine wundersame Totenerweckung. Aber letztlich ist es ein Gleichnis. So, wie dieses Bild. Ja, Lazarus ist irgendwann dann doch noch gestorben. Aber Auferstehung ins Leben vor dem Tod ist möglich, sagt uns diese biblische Geschichte. Vertraut darauf.

Es ist eine Hoffnungsgeschichte. Ihr Bild, Frau Happe, ist ein Hoffnungsbild. Ein Lichtschimmer in dunklen Zeiten. Ein österliches Bild trotz des schwarzen Quadrats. Es weist über die Passionszeit hinaus auf Ostern.

Sie, Frau Blauth, haben als Kuratorin wieder einmal ein gutes Gefühl, ein gutes Händchen für eine Ausstellung in der Passionszeit bewiesen. Die Besucher werden es Ihnen hoffentlich danken. Und Ihnen, Frau Happe, sage ich Dank, dass Sie uns in schwierigen Zeiten aufrüttelnde, aber eben auch ermutigende Bilder zeigen.

 

Pfarrer Falk Neefken, Superintendent a. D.