Sonntag, 4. November 2018

Einführungsrede zu Anna Schriever





© Anna Schriever



Anna Schriever: Die Geburt des Trotzdem – das Gute sehen


Vielleicht möchte der eine oder die andere den Figuren auf Anna Schrievers Bildern zurufen: Positiv denken! Oder Wird schon wieder! – denn von Sensibilität und Ver-letzlichkeit wollen wir oft nichts hören oder sehen.
Schönes Wetter und gute Laune sind uns lieber.
Aber wir wissen doch eigentlich, dass solche Ratschläge nichts sagen, sondern nur nerven.

Wenn wir vor einer Entscheidung stehen, nachdenken müssen, verletzt worden sind, mit irgendetwas nicht im Reinen sind, ist es am besten, in Ruhe gelassen zu werden. In Ruhe – gelassen. Wir müssen uns selbst finden, in unser Inneres finden, und können gerade überhaupt keine Bemerkungen von außen gebrauchen.

Und was wissen wir überhaupt von den hier dargestellten Menschen? Nicht viel.

Wir sehen scheinbar Portraits, jedoch ohne individuelle Details, ohne Angabe von Zeit und Ort. Anna Schrievers Menschen sind nicht zu identifizieren, oft ist nicht einmal erkennbar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Allerdings kommen sie uns trotzdem irgendwie bekannt vor: Ihre Darstellung rührt, berührt, trifft und betrifft uns.

Anna Schriever malt, wie sie selbst sagt, ihre Menschen, indem sie sich an sie „herantastet“; Menschen, „denen die Malerin nicht zu nahetritt und denen sie dennoch sehr nahe kommt“, heißt es treffend in einem Katalogtext (von Ingrid Bauer).
Grundlage waren zunächst alte Familienfotos (mit Menschengruppen), später begann sie, meistens je einen einzelnen Menschen zu fokussieren, anhand von Zeitungsausschnitten, Prospekten, Fotos, die sie interessant und geeignet findet für ihre Arbeit.

Dabei legt sie sich nicht fest, sondern sie überlässt es dem Schaffensprozess, Formen zu finden und schließlich zu definieren. Von der individuellen Vorlage arbeitet sie sich Schritt für Schritt in eine Bildversion vor, in der Allgemein-verständliches wichtiger wird als Individuelles, sie nimmt weg, übermalt, verändert; eine Momentaufnahme gerät in Bewegung durch die Aktion der Malerei, durch deren Pinselstriche, die gleichzeitig etwas herausarbeiten und ins Unklare, Rätselhafte stellen.
Mit Acrylfarbe malt sie auf Leinwand oder Papier und ergänzt ihre Malerei mit Kreide oder Bleistift, zeichnerische Werkzeuge, mit denen das Flüchtige ins Bild kommt, so, als sei einerseits die Malaktion gar nicht zu Ende, als sei andererseits der Mensch, den das Bild in seinen Fokus nimmt, keineswegs gefangen in seiner Situation. Darauf weist der Titel der Ausstellung hin: Die Geburt des Trotzdem. Trotz allem strahlen die Bilder ja auch Hoffnung aus, jenes rätselhafte Kraftpotential des Menschen, das ihn möglicherweise im nächsten Moment aufstehen lässt, um sich einer Situation zu stellen, kreative Lösungen zu finden, eine Veränderung anzunehmen.

Den Bildern ist also eine Ambivalenz eigen, eine Spannung zwischen Skizzenhaftigkeit und Vollendung; sie sind wie hingehaucht, aber kraftvoll hingehaucht.
Natürlich kommt auch die Ambivalenz der Farbe Weiß ins Spiel (kein reines Weiß, aber die Bilder sind ja meistens auffallend hell): Im Weiß treffen sich Gegensätze wie Licht und Leere, Trostlosigkeit und Befreiung, Schweigen und Heiterkeit.

Als ich vor Jahren in einer Ausstellung Bilder von Anna Schriever sah, wirkten sie auf mich wie Erinnerungsbilder, Vorstellungsbilder, die nach einer realen Begegnung „vor dem inneren Auge“ präsent sind.


In Farb und Klang verweben
Sich Bilder, zerfließen, zerschäumen,
Bilder aus meinem Leben,
Bilder aus meinen Träumen

so heißt es in einem Gedicht von Joachim Ringelnatz.

Im grauen November thematisiert das Kirchenjahr mit seinen vielen Gedenktagen das tröstliche "Trotzdem", das Anna Schrievers Bildern eben auch innewohnt. Man könnte ihre Arbeiten tatsächlich Allerseelenbilder nennen, anrührend, wie sie sind.  Ganz wie in den Bildern unserer Erinnerung scheint hier alles Unnötige weggemalt, damit das Wesentliche zurückbleibt. Erinnerung kann unsere Herzen beleuchten, gerade wenn eine Begegnung, ein Ereignis oder ein geteiltes Leben einzigartig und nicht wiederholbar ist.


Erinnerung ist übrigens auch ein Grund dafür, dass ich diesen kurzen Vortrag übernommen habe: In den 80er Jahren haben Anna Schriever und ich zusammen studiert – Kommunikationsdesign an der Universität Wuppertal. Das ist ein Studium, in dem die visuelle Gestaltung zwar im Zentrum steht, jedoch umrahmt wird von allerlei anderen Disziplinen, ein bisschen in der Bauhaus-Tradition, das im kommenden Jahr sein hundertjähriges Jubiläum feiert. So konnten wir bei einer Schauspielerin Sprechunterricht belegen oder uns mit Literatur oder Musik beschäftigen, Texte verschiedenster Art schreiben und Filme machen.
Ich erinnere mich noch an die wunderschönen Zeichnungen von Anna und auch, wie sie damals schon alte Familienbilder für ein Projekt thematisierte – was ja schließlich das Fundament für ihre heutigen Menschenbilder war.

Anna Schriever, Jahrgang 1961, lebt und arbeitet in Mettmann. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Malerei und Grafik. Nach den Anfangsjahren in unserem Studium haben wir uns aus den Augen verloren, sind aber doch ganz ähnliche Wege gegangen, indem wir uns beide zur freien Kunst hingezogen fühlten. Wir hatten sogar manchmal an denselben Orten Ausstellungen (z. B. im Kunstraum Notkirche Essen oder in der Nordstadtgalerie Wuppertal), allerdings zu völlig verschiedenen Zeitpunkten, so dass wir bis jetzt nicht wieder aufeinander trafen. Aber die Erinnerung an die sensiblen Arbeiten von Anna blieb für mich stets präsent.


Es begeistert ja immer wieder, was für eine Schätzesammlung die Bibel ist, und so möchte ich abschließend den Gesamteindruck der Ausstellung sozusagen biblisch übersetzen:
Ein Hauch ist jeder Mensch … er kommt und geht, gleicht darin einem Traumbild … ich werde still, ich werde nichts mehr sagen … erhöre mein Gebet (aus Psalm 39)


Marlies Blauth










Portrait Anna Schriever