Mit
freundlicher Genehmigung von Prof. Dr.-Ing. Ortwin Peithmann dürfen wir seine
Einführungsrede zur Ausstellung Traute
Kessler – Weiß in Weiß an dieser Stelle veröffentlichen:
"Meine
Aufgabe ist es, Ihnen eine Einführung zur Person und zu den ausgestellten
Arbeiten von Traute Kessler zu geben.
Zunächst
zur Person:
Traute
Kessler hat Kindheit und Jugend an der Nordsee verbracht, auf der Insel Sylt.
Ihr ästhetisches Empfinden ist von den visuellen Elementen des Küstensaumes mit
Wasser, Wellen, Sand und Dünen geprägt worden. Ich komme darauf bei den Erläuterungen
zu ihren Arbeiten zurück.
Die
Künstlerin gründet die Professionalität ihrer Arbeit nach einer Handweblehre
auf Sylt auf drei Ausbildungsphasen, in denen sie von prägenden
Persönlichkeiten im Rheinland und in Westfalen angeleitet wurde:
–
Grundlegend war das Studium des Textildesigns bei Prof. Barbara Schu an der
Textilingenieurschule in Krefeld.
–
Sie hat darüber hinaus Kunstgeschichte bei Prof. Georg Schwarzbauer studiert. – In den Techniken der Papierbearbeitung
durch Aquarell und Zeichnung wurde sie von dem Hagener Künstler Helwig Pütter
unterrichtet.
Sie
hat den Beruf der Textildesignerin in verschiedenen Ateliers ausüben können.
Ihre
zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland erwähne ich hier nicht.
Zur
Person von Traute Kessler gehört ihre Mitgliedschaft im Bund Bildender Künstler
HAGENRING e. V., dort wirkt sie seit vielen Jahren mit. Als Vorstandsmitglied
übt sie das Amt der Schriftführerin aus.
Ich
gebe einen Hinweis auf eine besondere parallel laufende Ausstellung, in der Sie
weitere Arbeiten von Traute Kessler sehen können: Die Ausstellung zum Jubiläum
des Vereins HAGENRING, der in diesem Jahre sein neunzigjähriges Bestehen
feiert. Und ich gebe eine kurze Erläuterung dazu:
Am
Anfang der Gründung des HAGENRING im Jahr 1924 stand ein Ende, nämlich das Ende
des „Museums Folkwang“ am Standort Hagen. Karl-Ernst-Osthaus hatte dieses Museum
zum Beginn des letzten Jahrhunderts dort errichtet. Das Museum
Folkwang
bildete Ausstellungsräume und Sammlung des Mäzen Osthaus unmittelbar nach der
vorletzten Jahrhundertwende. Diese Phase der deutschen Kunst- und Museumsgeschichte
wird heute mit dem Begriff „Hagener Impuls“ bezeichnet.
Osthaus
starb im Jahr 1921. Die Erben wollten sein Werk zu Geld machen. Die Stadt Essen
konnte die Sammlung von der Witwe des Mäzens im Jahr 1922 im Wettbewerb mit der
Stadt Hagen als Meistbietende erwerben.
Eine
Künstlergruppe um den Maler Christian Rohlfs gründete den HAGENRING 1924 in
trotziger Reaktion darauf: mit dem Wegkaufen der Sammlung Folkwang durch eine
reichere, größere Stadt, sollte der künstlerische Aufbruch in Hagen nicht
beendet werden. So entstand eine der ältesten Künstlerververeinigungen in
Deutschland.
Aus
Anlass des Jubiläums stellt der HAGENRING noch bis zum 4. Mai Arbeiten seiner
Mitglieder im Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen aus. Infomaterial liegt für
Sie aus.
Nun
aber zurück zu Traute Kessler!
Ein
Paar Worte zu Material und Technik der hier ausgestellten Arbeiten.
Die
gezeigten Werke bestehen aus Schichten von verschiedenen Papieren, Pergamentpapier,
Packpapier, Seidenpapier und ganz überwiegend Aquarellpapier in
unterschiedlichen Körnungen. Die Stärke und Faserstruktur des Aquarellpapiers
faszinieren die Künstlerin und zugleich die Betrachter ihrer Arbeiten.
Ihre
zentrale Technik der Bearbeitung dieser Papiere ist das Reißen.
Das
Wort deutet auf Zerstörung, Entledigung, Ablehnung. Für Traute Kessler ist es
aber genau das Gegenteil: behutsame, einfühlsame Formgebung für Papierkanten.
Sie verschont das kostbare Aquarellpapier vor Messer oder Schere und formt es
mit ihren Händen. Daraus entstehen Reißkanten, die in ihrer Breite
variieren,
manche sind bis zu zwei Zentimeter breit. Die Kanten, die wie ein
Zufallsprodukt aussehen, sind gezielt gerissen, hier waltet kein
Probierprozess, Traute Kessler lässt keinen Raum für den Zufall. Die Risslinien
– nahezu parallel oder in spitzen Winkeln zueinander verlaufend – bilden ein
geplantes ästhetisches Muster.
Diese
Ausstellung heißt "Weiß in Weiß". Dennoch sehen wir Farben in
sparsamer Verwendung. Traute Kessler erläutert das im aktuellen Jubiläums-Katalog
des HAGENRING so:
'In
meinen Arbeiten spielen Farben eine wichtige Rolle, auch wenn es auf den ersten
Blick nicht so scheint. Aber neben den Aquarellfarben, die – meist sparsam –
zur Flächengestaltung beitragen, sind es die Farbtöne und Strukturen des weißen
Papiers, die durch Schichtungen ein fast dreidimensionales Bild ergeben.
Das
Papier ist nicht mehr Bildträger, sondern farb- und flächengestaltendes
Material mit eigener Aussage.'
Ich
ergänze das mit zwei Aspekten:
–
Erstens die Farbe der verschiedenen Papiere. Pergamentpapier über Aquarellpapier
liefert einen zarten Grauton, Packpapier bringt Flächenanteile in Braun und Ocker ein.
–
Zweitens begegnen uns grauschwarze durchscheinende Musterungen. Diese
Bildeffekte entstehen durch Zusammenfalten, Knüllen des Papiers in feuchtem
Zustand und durch gezieltes Aufbringen von Farbpigmenten. Das anschließende
getrocknete und geglättete Papier wirkt wie Naturfotografie: wir sehen
Ähnlichkeiten mit Astwerk, Gespinst oder Gewebe.
Neben
den Farben lassen Licht und Schatten in den Arbeiten von Traute Kessler ein
breites Spektrum von Bildwirkungen entstehen:
Die
Papierschichten liegen nicht plan aufeinander, zwischen ihnen gibt
es Räume, über die – unterstützt durch Licht, das in flachem Winkel
auffällt – der Eindruck eines Reliefs entsteht.
Die
gerissenen Kanten werfen Schatten. Das hebt die Geometrie der Kante und ihren
harmonischen Verlauf im Bezug zu anderen Kanten hervor.
Wo
die Papiere rückseitig eingefärbt sind, strahlt ihre Farbe zurück auf die
dahinter liegende Betrachtungsebene. Durch die Variation im Abstand der Papiere
zueinander entstehen zartfarbige sanfte Farbübergänge ohne jede Stufung.
Wo
Licht zwischen weiße Papierschichten einfällt, wird seine Leuchtwirkung durch
mehrfache Reflektion gesteigert und bringt die Risskanten förmlich zum
Leuchten, sie wirken dann wie eigenständige Lichtquellen.
Die
Bilder hängen im Altarraum besonders günstig, um ihre Reliefstruktur zu
entfalten. Das seitlich von Süden einfallende Licht unterstützt die Wahrnehmung
der Tiefe in den Bildern.
In
der sparsamen Verwendung von Farbe, in der Konzentration auf die Wirkung von
Licht und Schatten und in der Betonung von Rändern drücken sich die prägenden
Seherfahrungen der Künstlerin aus ihrer Jugend auf der Insel aus.
–
Die sparsame Vegetation der Küstenränder bietet weniger Farbigkeit als im
Binnenland.
–
Licht und Schatten haben demgegenüber an der Küste eine viel größere Wirksamkeit:
Licht reflektiert an der Meeresoberfläche und verstärkt sich. Die flachen
Winkel, mit denen das Licht in den Tagesrandzeiten auffallen kann,
überhöhen
die Schattenwirkungen, sie machen feinste Unterschiede im Relief sichtbar, z.
B. in den Wellen, den Riffelungen im Sand oder den Erhebungen von Muscheln und
Strandgut.
– Der
Spülsaum des auf den Strand auflaufenden Wasser oder die Ränder vom Sandkörper
der Dünen zum Strandhafer lassen vielfältige sich dynamisch verändernde
Randlinien sehen.
Die
Arbeiten von Traute Kessler nehmen alle diese Formelemente auf.
Nun
zu Inhalt und Deutung:
Die
Arbeiten sind grundsätzlich abstrakt.
Die
Künstlerin hilft uns nicht durch die Angabe von Titeln auf dem Weg zum
Verständnis ihrer Arbeiten. Wir müssen – oder besser: dürfen – uns die Wirkung
ihrer Arbeiten auf uns ganz frei erschließen.
Die
Anordnung der Papierschichten mit ihren gerissenen Rändern grenzt die Wirkung
auf uns jedoch – wie ich meine – in inhaltlich frappanter Weise ein und verstärkt
sie dabei zugleich. Gerissenes ist Zerstörtes, für den Betrachter vielleicht
sogar Verstörendes, auch wenn die Komposition im Ganzen Zart und unschuldig
wirkt und wenn wir wissen, mit welcher Zärtlichkeit Traute Kessler ihr Aquarellpapier
behandelt. Die Bilder lassen offen, ob hier Prozesse des Aufbrechens, des
ersehnten Entstehens – wie bei Knospen jetzt in derFrühlingszeit – dargestellt
werden oder ob die Risse die Folge von Verletzung und damit der Teil von
Zerstörung sind. Zumeist öffnen sich die aufgerissenen Flächen nach oben und
verheißen damit positive Öffnung, Wachsen.
Schichten,
deren Übereinanderliegen erkennbar ist und die durch das Reißen in einem
Prozess der Freilegung der tieferen Schichten sind, sprechen in starker Symbolik
die Sichtweise des Entdeckens an. So erkläre ich mir die kraftvolle
Unmittelbarkeit im Erleben dieser Arbeiten: sie sind Symbol für Neugier.
Entdecken
bedeutet, verdeckende Schichten über einem Gegenstand des Interesses beiseite
zu schieben. Es erinnert an die Arbeit von Archäologen, die Schicht für Schicht
von Menschenwerk aus vergangenen Jahrhunderten beiseite räumen. Oder an die
Arbeit von Geologen, die der Entstehung der Erdschichten über Jahrmillionen auf
den Grund gehen. Es erinnert auch an die Arbeit des Chirurgen, des Präparators
oder allgemein des Naturforschers.
Wir
können aber den Entdeckerdrang auch anders interpretieren. Wenn wir aus der
wissenschaftlichen Neugier heraus weitergehen zur Neugier des Gefühls: zu Begierde
und Versuchung. Dann sind wir in der Symbolik des lustvollen Enthüllens. Finden
Sie selbst heraus, ob Ihre Lustgefühle sich durch Abstraktion ansprechen lassen.
Das
Entdecken als Prozess impliziert die Dimension der Zeit:
Entdecken
kann sich auch auf den Umgang mit Vergangenheit beziehen, wenn es gilt, Schichten
des Vergessens beiseite zu schieben und Vergangenes aus der Erinnerung zu
holen, zu klären, was womöglich lange vergraben war. Mit einem solchen Verständnis
unseres Gedächtnisses bei der Beschäftigung mit der eigenen, ganz persönlichen
Vergangenheit arbeitet die Psychoanalyse. Günter Grass betitelte seine 2006
erschienene Biographie "Beim Häuten der Zwiebel". Das Häuten ähnelt
dem Ergebnis bei Traute Kessler, obwohl sie umgekehrt vorgegangen ist, Schicht
um Schicht übereinander gelegt hat.
Durchgängig
ohne Angabe von Titeln lassen sich in einzelnen Arbeiten gegenständliche Motive
ausmachen, die wiederum die Verbundenheit der Künstlerin mit der Küste erkennen
lassen:
Das
Bild auf der Einladungskarte zeigt die Silhouetten von Schiffsrümpfen in
Verbindung mit den aus dem Bild nach vorn und unten hervortretenden
Papierrollen. Das sind Poller, an denen die Schiffe fest gemacht werden.
Auf
dem Bild mit den beiden länglichen schwarzen Klecksen können Sie Wanderer
erkennen, die sich schräg gegen den Wind an der Küste lehnen.
Diese
von mir vorgetragenen Deutungshinweise sind ortsunabhängig gültig.
Hinweise
auf die Konnotation mit dem Ort dieser Ausstellung können das Verständnis
ergänzen:
Hier
im konkreten Raum einer Kirche bieten sich weitere Bezüge an. Die Öffnung der
Bilder im Altarraum nach oben kann auf die Transzendenz zum Himmlischen
verweisen.
Die
Farbe „Weiß“ passt zur aktuellen Phase des Kirchenjahres.
–
Sie steht im Farbenkreis des evangelischen Kirchenjahres
zwischen
Ostern und Pfingsten.
–
Weiß ist die Christusfarbe.
– Weiß
ist die Farbe der Gewänder der an Ostern Getauften.
–
Dem Heiligen Geist, der zum bevorstehenden Pfingstfest auf die Menschen
ausgegossen wird, ist die Weiße Taube als Symbol zugeordnet.
Weiß
steht im religiösen Verständnis auch für Jugend, Werden und Unschuld. Zur Hochzeit
tragen Mädchen und Frauen Weiß.
Weiß
ist die Farbe der Freude und des Glücks. Die Ausstellung könnte nicht passender
terminiert sein. Sie reicht in den Wonnemonat Mai hinein.
Ich
überlasse Sie jetzt Ihrer persönlichen Wonne beim Betrachten der Arbeiten aus
der Nähe."
Dr.
Ortwin Peithmann, April 2014
Fotos: Andreas Blauth