Mittwoch, 31. Oktober 2012

Roswitha Petry-Hammann










Roswitha Petry-Hammann

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Ausstellung vom 28.10. bis 2.12.2012




Einführungsvortrag von Jörg Loskill

Kunst in der Kirche: Dieser Ort diktiert die Bedingungen.
Kunst in der Apsis: Erst recht diese Fixierung erfordert einen engen, intensiven, aber doch stillen, nach innen gekehrten Dialog zwischen der bildenden Kunst und der Religion, zwischen Bild/Objekt und Raum sowie dessen christliche Zeichen.
Jeder Beitrag dieser modellhaften Reihe hier in der evangelischen Kirche in Meerbusch-Osterath, die längst provinzielle Grenzen überschritten hat und landesweite Aufmerksamkeit erzeugt, muss sich dieser Gegenüberstellung und dieser Determination stellen.

Das gilt auch für die Arbeiten von Roswitha Petry-Hammann. Die Gelsenkirchenerin steht mit ihrem Schaffen seit Jahrzehnten an der Grenze, also „auf der Kippe“ – hier die informelle, ungegenständliche, intuitive Botschaft; dort assoziative Fragmente und Zeichen, die uns ahnen lassen, in welche Motiv-Hintergründe, Problemtiefen, Themenschluchten und irrationale Schichten diese Malerin und Grafikerin enervierend und insistierend eintaucht.
Aber es fällt bei dieser Bilder- und Objektauswahl noch eine zweite Kipp-Situation auf. Ob bei ihren aquarellierten Faltreliefs oder ihren größeren Malformaten mit Mischtechnik und eingewobenen Fund- und Fremdmaterialien – immer droht die Apokalypse trotz einer vielleicht lebhaften, bejahenden Farb- und Formensprache; immer dämmert hinter dem geduldigen oder sogar hoffnungssatten Horizont das „Warum“, das „Wie weiter?“, das „Was mag kommen?“ Immer gibt es Anhaltspunkte in verschiedenen Richtungen – hin zum Menschen, weg vom Menschen, hin zum Göttlichen, und zurück wieder zu Irdischem. Also findet eine Balance zwischen dem Einst, Jetzt und der Zukunft statt, zwischen dem Wissen und der Erfahrung sowie der Ungewissheit visionärer Gedanken und der subjektiven Fantasie. Aber ist dieses Befragen der allgemeinen Wirklichkeit und des individuellen Bewusstseins nicht eine urchristliche, theologische und damit fundamentale Ausgangsposition, die gerade bei einer sakralen Ausstellung apostrophiert wird? Lassen Sie uns deshalb einmal näher hinschauen und gemeinsam darüber nachdenken, was bildende Kunst als Vermittlungs- und Transportmittel in einer Kirche anrichtet, abverlangt oder justiert.

Roswitha Petry-Hammann, Mitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler und des Kunstvereins Gelsenkirchen, demonstriert uns in fast jedem ihrer Werke das Wechselprinzip. Was gerade noch aufgehellt, heiter und freundlich schien, verkehrt sich wenige Zentimeter weiter im Bildraum als düster, mystisch, geheimnisvoll und verrätselt. Eine blaue Linie, die durch eine bildnerische Fläche verläuft, kann ein Fluss, eine fließende Bewegung, eine Kanalisierung für die visuelle Orientierung sein; aber sie steuert ins Irgend- und Nirgendwo; sie könnte auch als Grenze zwischen kosmischen und irdischen Landschaften wirken, als Verbindungsstück zwischen Himmel und Erde, oder auch als blaue Blutbahn für ein humanistisch geprägtes Lebensbejahungsfeld.
Oder: Ein opulentes Diptychon assoziiert mit blockhafter Schein-Gegenständlichkeit Fisch und Vogel – christliche, aber auch anarchische, vitale Gesten, mit neuer und intimer Emotion aufgeladen; oder sind es nebulöse, kalte, erlebte Landschaften, die uns irgendwo auf den Kontinenten begegnen könnten? Sind es helle Sternformationen, vielleicht planetarisch erahnte Explosionen, hier eingefangen irgendwo aus dem fernen All?
Oder: Blätter, auf großem Format fixiert. Fallen sie als Zeichen für den Herbst, für die kältere Jahreszeit; oder werden sie als scheue Frühlingsboten wahrgenommen? Vielleicht als dokumentarische Zeugnisse für Goethes Wort vom ewigen Kreislauf: „Stirb und werde!“
Oder: „Me“ heißt eines der Favoritenbilder von Roswitha Petry-Hammann. Sie greift damit einen zentralen Begriff des Sumerer-Kultes auf. Me – das ist die Regel- und Gesetzsammlung über die göttliche Weltordnung, die das Volk aus der Region Mesopotamiens im 4. und 3. Jahrtausend vor Christi erstellte. Ein uraltes Motiv? Über die Götter Enki und Inanna, Nusku und Ningal, über Himmelswesen und erdennahe Mächte, über Schöpfung und Weisheit, über menschliches Versagen und menschliche Triumphe, über den Weltenbaum und über die Unterwelt des Totenreiches. Alles fließt hier hinein: Seele und Aufbegehren, Ruhe und Sterben, Kraft und Utopisches, Alltag und Göttersitz, Kontemplation und exzessiver Schrei.
So könnte man Bild für Bild, Objekt für  Objekt abschreiten, vor ihm inne halten und in ihm lesen – von und über Gedanken, Ideen und Visionen. Ständig variiert die Malerin die Perspektive, den Ausgangspunkt, den Einstieg in die internationalen Mythen und Rituale der Menschheit und ihren unterschiedlichen Kulturen, in denen sich doch so viel Gemeinsames, ja konkrete Parallelen finden lassen. Winter und Sommer ziehen in ihren bildnerischen Poesie-Statements vorbei, sie taucht ins Leben spendende Wasser ein und begibt sich in luftige Höhen und Weiten, man blickt hinunter auf Landschaften voller Punkte und Lineaturen, die von der Zivilisation und von der sich wehrenden Natur zeugen. Und wird sodann wiederum überrascht, dass in dieser scheinbar friedlichen Weltschau sich auch schon Zerstörerisches, Chaotisches, Schreckliches, sicher auch Blutiges andeutet. Als wollte die Künstlerin es uns in immer neuen Aspekten und Botschaften sagen: Im Menschen liegt viel Gutes – aber die Gefahr, dass dieses Gute, Tragende und Würdigende in sein Gegenteil kippt, ist stets latent. Gott und die Götter haben es bereits oft vorgedacht… Die Passion, die Bergpredigt, die Berichte der Apostel, die alttestamentarischen Aufzeichnungen sind, zitiert man die christlichen Traditionen und Ideale, voll von diesem wechselvollen Charakterspiel zwischen Ja und Nein, Buße und Reue, Hilfe und Ablehnung, Frieden und Krieg.

Und in diesem großen Gott-Mensch-Natur-Zusammenhang, also weltumspannenden Philosophie-Horizont sehe ich die Bilder von Roswitha Petry-Hammann als seriöses und quellreiches Angebot für uns alle, über uns selbst nachzudenken, über unsere subjektive und individuelle Position, mit der wir das Banale und Triviale überstehen und uns von ihnen lösen können. Als religiös oder anthropologisch formulierte Gebete, auch als persönliche Anfragen an ein übergeordnetes System. Ihre Bilder schenken uns großzügige, freiheitliche Anregungen, uns aus der und mit der humanistischen Geschichte Lehren zu ziehen, wie wir miteinander umgehen, wie wir bestehen können, wie Menschen anderen Menschen den Weg zeigen und ebnen können… Wohin? Das bleibt in der Regel bei dieser Malerin offen.

Archäologische Ausgrabungen, wo auch immer auf dem Erdball, dienen dazu, uns das Leben unserer Vorvorvorvorfahren zu schildern, zu veranschaulichen, zu erzählen, eventuell auch zu erklären. Beschämt erkennen wir oft, wie wir diesen jahrtausendealten Hochkulturen von einst intellektuell hinterherhinken – trotz medialer Allmacht, trotz Google und Apple, trotz Wissensfülle und Astronauten-Touren, trotz Twitter, Wikipedia, Facebook und Blogs. Die Bilderwelten von Roswitha Petry-Hamann wirken auf mich häufig wie jene Ausgrabungen, idealisiert und verallgemeinernd, ohne jedoch eine konkrete Verortung am Euphrat, in Knossos auf Kreta, bei den ägyptischen Pyramiden von Gizeh oder von afrikanischen Fundstätten beispielsweise in Äthiopien zu erlauben. Ihre Sujets verteilt sie auf Land- und Menschheitskarten, die auf das Zeitlose einer Situation, einer Idee oder einer Begegnung zielen. Man gerät bei diesen Bildformaten in einen suggestiven Sog, wird selbst Teil dieser Zwiesprache zwischen Historie und Gegenwart, Individuum und Allgemeinheit. Sie fordert bei jedem die eigene enzyklopädische Haltung ein, sie macht es uns darin gerade nicht bequem.
Und so wandern wir mit ihren bildnerischen Assoziationsketten quer durch die Mythen und Existenzfragen, durch Werteregister und biblische Erkundungen, durch Märchen und Kulturen, durch Emotionsfelder und Klima-Weiten, um nichts anderes zu suchen als den Kern des Lebens, den Punkt der Wahrheit und das Ideal menschlicher Eigenschaften. Sie hat diesen Nukleus für sich vielleicht schon gesichtet und gefunden, ohne platt und besserwisserisch uns „mit der Nase“ visuell darauf zu stoßen. Die Sinnsuche ist etwas Allgemeines und Intimes – daran arbeiten alle Völker, alle Nationen, alle Kulturen. Sich jedoch einen persönlichen, poetischen und immer fantasievollen Zugang zu dieser Sinnsuche geschaffen zu haben, das darf diese Künstlerin für sich in Anspruch nehmen. Und wir bedanken uns bei ihr für die Offenlegung ihrer Geheimnisse und Entdeckungen. Denn darin liegt die Chance, uns selbst zu finden.

Kunst in der Apsis einer Sakralarchitektur: Kaum ein Ort eignet sich besser für eine solche hintergründige Werte- und Sinnbefragung wie dieser. Hier versammeln wir uns, das meine ich in einer mehrdeutigen Auslegung. Und wenn Gott dieses kontemplative, lyrische, fantastische oder auch mal dramatische Insistieren gefällt, wird er sich auf seine einmalige Weise an uns wenden. Helfend, heilend, hoffnungsgebend, in einem starken positiven Reflex. Oder doch auch nur fragend?
Wir warten also. Die Menschheit muss, wir müssen diese Zeit des meditativen Wartens aufbringen. Mag die Zeit des Berufes, des Alltags, des Fortschritts, des zunehmenden Alterns auch für jeden Einzelnen rasen. Roswitha Petry-Hamann hält in ihren Bildern die Zeit zumindest vorübergehend als An- und Ausruf an. Für einen Moment der Rezeption, des Eintauchens, der Selbstbefragung, bestenfalls des Mit-sich-ins-Reine-Kommens. Sie gibt uns einen Auftrag nach dieser Ausstellung mit. Das kann durchaus auch mal mit einer geistigen Anstrengung verbunden sein. Doch dafür entschädigt die vitale Sinnlichkeit ihrer Arbeiten  – mindestens.

Ich danke Ihnen.



Jörg Loskill, Jahrgang 1944, geboren in Fürstenwalde/Spree; nach dem Studium (Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Germanistik) 40 Jahre Kulturredakteur bei der WAZ, Mitarbeiter internationaler Fachmagazine; Dozent an der Kunstakademie Münster; Herausgeber/ Autor von über 30 Büchern.





 Roswitha Petry-Hammann



Blick in den Kircheninnenraum mit Apsis





Fotos: R. Petry-Hammann/ privat, Andreas Blauth