Roswitha Petry-Hammann
Leben – Kunst – Leben
Ausstellung vom 28.10. bis 2.12.2012
Einführungsvortrag von Jörg Loskill
Kunst in
der Kirche: Dieser Ort diktiert die Bedingungen.
Kunst in
der Apsis: Erst recht diese Fixierung erfordert einen engen, intensiven, aber
doch stillen, nach innen gekehrten Dialog zwischen der bildenden Kunst und der Religion,
zwischen Bild/Objekt und Raum sowie dessen christliche Zeichen.
Jeder
Beitrag dieser modellhaften Reihe hier in der evangelischen Kirche in
Meerbusch-Osterath, die längst provinzielle Grenzen überschritten hat und
landesweite Aufmerksamkeit erzeugt, muss sich dieser Gegenüberstellung und
dieser Determination stellen.
Das gilt
auch für die Arbeiten von Roswitha Petry-Hammann. Die Gelsenkirchenerin steht
mit ihrem Schaffen seit Jahrzehnten an der Grenze, also „auf der Kippe“ – hier
die informelle, ungegenständliche, intuitive Botschaft; dort assoziative
Fragmente und Zeichen, die uns ahnen lassen, in welche Motiv-Hintergründe, Problemtiefen,
Themenschluchten und irrationale Schichten diese Malerin und Grafikerin enervierend
und insistierend eintaucht.
Aber es
fällt bei dieser Bilder- und Objektauswahl noch eine zweite Kipp-Situation auf.
Ob bei ihren aquarellierten Faltreliefs oder ihren größeren Malformaten mit
Mischtechnik und eingewobenen Fund- und Fremdmaterialien – immer droht die
Apokalypse trotz einer vielleicht lebhaften, bejahenden Farb- und
Formensprache; immer dämmert hinter dem geduldigen oder sogar hoffnungssatten
Horizont das „Warum“, das „Wie weiter?“, das „Was mag kommen?“ Immer gibt es
Anhaltspunkte in verschiedenen Richtungen – hin zum Menschen, weg vom Menschen,
hin zum Göttlichen, und zurück wieder zu Irdischem. Also findet eine Balance
zwischen dem Einst, Jetzt und der Zukunft statt, zwischen dem Wissen und der
Erfahrung sowie der Ungewissheit visionärer Gedanken und der subjektiven
Fantasie. Aber ist dieses Befragen der allgemeinen Wirklichkeit und des
individuellen Bewusstseins nicht eine urchristliche, theologische und damit fundamentale
Ausgangsposition, die gerade bei einer sakralen Ausstellung apostrophiert wird?
Lassen Sie uns deshalb einmal näher hinschauen und gemeinsam darüber
nachdenken, was bildende Kunst als Vermittlungs- und Transportmittel in einer
Kirche anrichtet, abverlangt oder justiert.
Roswitha
Petry-Hammann, Mitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler und des
Kunstvereins Gelsenkirchen, demonstriert uns in fast jedem ihrer Werke das
Wechselprinzip. Was gerade noch aufgehellt, heiter und freundlich schien,
verkehrt sich wenige Zentimeter weiter im Bildraum als düster, mystisch,
geheimnisvoll und verrätselt. Eine blaue Linie, die durch eine bildnerische
Fläche verläuft, kann ein Fluss, eine fließende Bewegung, eine Kanalisierung
für die visuelle Orientierung sein; aber sie steuert ins Irgend- und Nirgendwo;
sie könnte auch als Grenze zwischen kosmischen und irdischen Landschaften
wirken, als Verbindungsstück zwischen Himmel und Erde, oder auch als blaue
Blutbahn für ein humanistisch geprägtes Lebensbejahungsfeld.
Oder: Ein
opulentes Diptychon assoziiert mit blockhafter Schein-Gegenständlichkeit Fisch
und Vogel – christliche, aber auch anarchische, vitale Gesten, mit neuer und
intimer Emotion aufgeladen; oder sind es nebulöse, kalte, erlebte Landschaften,
die uns irgendwo auf den Kontinenten begegnen könnten? Sind es helle
Sternformationen, vielleicht planetarisch erahnte Explosionen, hier eingefangen
irgendwo aus dem fernen All?
Oder: Blätter,
auf großem Format fixiert. Fallen sie als Zeichen für den Herbst, für die
kältere Jahreszeit; oder werden sie als scheue Frühlingsboten wahrgenommen? Vielleicht
als dokumentarische Zeugnisse für Goethes Wort vom ewigen Kreislauf: „Stirb und
werde!“
Oder: „Me“
heißt eines der Favoritenbilder von Roswitha Petry-Hammann. Sie greift damit
einen zentralen Begriff des Sumerer-Kultes auf. Me – das ist die Regel- und
Gesetzsammlung über die göttliche Weltordnung, die das Volk aus der Region
Mesopotamiens im 4. und 3. Jahrtausend vor Christi erstellte. Ein uraltes
Motiv? Über die Götter Enki und Inanna, Nusku und Ningal, über Himmelswesen und
erdennahe Mächte, über Schöpfung und Weisheit, über menschliches Versagen und
menschliche Triumphe, über den Weltenbaum und über die Unterwelt des
Totenreiches. Alles fließt hier hinein: Seele und Aufbegehren, Ruhe und Sterben,
Kraft und Utopisches, Alltag und Göttersitz, Kontemplation und exzessiver Schrei.
So könnte
man Bild für Bild, Objekt für Objekt
abschreiten, vor ihm inne halten und in ihm lesen – von und über Gedanken, Ideen
und Visionen. Ständig variiert die Malerin die Perspektive, den Ausgangspunkt, den
Einstieg in die internationalen Mythen und Rituale der Menschheit und ihren
unterschiedlichen Kulturen, in denen sich doch so viel Gemeinsames, ja konkrete
Parallelen finden lassen. Winter und Sommer ziehen in ihren bildnerischen
Poesie-Statements vorbei, sie taucht ins Leben spendende Wasser ein und begibt
sich in luftige Höhen und Weiten, man blickt hinunter auf Landschaften voller
Punkte und Lineaturen, die von der Zivilisation und von der sich wehrenden Natur
zeugen. Und wird sodann wiederum überrascht, dass in dieser scheinbar
friedlichen Weltschau sich auch schon Zerstörerisches, Chaotisches, Schreckliches,
sicher auch Blutiges andeutet. Als wollte die Künstlerin es uns in immer neuen
Aspekten und Botschaften sagen: Im Menschen liegt viel Gutes – aber die Gefahr,
dass dieses Gute, Tragende und Würdigende in sein Gegenteil kippt, ist stets
latent. Gott und die Götter haben es bereits oft vorgedacht… Die Passion, die
Bergpredigt, die Berichte der Apostel, die alttestamentarischen Aufzeichnungen
sind, zitiert man die christlichen Traditionen und Ideale, voll von diesem
wechselvollen Charakterspiel zwischen Ja und Nein, Buße und Reue, Hilfe und
Ablehnung, Frieden und Krieg.
Und in
diesem großen Gott-Mensch-Natur-Zusammenhang, also weltumspannenden Philosophie-Horizont
sehe ich die Bilder von Roswitha Petry-Hammann als seriöses und quellreiches
Angebot für uns alle, über uns selbst nachzudenken, über unsere subjektive und
individuelle Position, mit der wir das Banale und Triviale überstehen und uns von
ihnen lösen können. Als religiös oder anthropologisch formulierte Gebete, auch
als persönliche Anfragen an ein übergeordnetes System. Ihre Bilder schenken uns
großzügige, freiheitliche Anregungen, uns aus der und mit der humanistischen
Geschichte Lehren zu ziehen, wie wir miteinander umgehen, wie wir bestehen
können, wie Menschen anderen Menschen den Weg zeigen und ebnen können… Wohin?
Das bleibt in der Regel bei dieser Malerin offen.
Archäologische
Ausgrabungen, wo auch immer auf dem Erdball, dienen dazu, uns das Leben unserer
Vorvorvorvorfahren zu schildern, zu veranschaulichen, zu erzählen, eventuell
auch zu erklären. Beschämt erkennen wir oft, wie wir diesen jahrtausendealten Hochkulturen
von einst intellektuell hinterherhinken – trotz medialer Allmacht, trotz Google
und Apple, trotz Wissensfülle und Astronauten-Touren, trotz Twitter, Wikipedia,
Facebook und Blogs. Die Bilderwelten von Roswitha Petry-Hamann wirken auf mich
häufig wie jene Ausgrabungen, idealisiert und verallgemeinernd, ohne jedoch eine
konkrete Verortung am Euphrat, in Knossos auf Kreta, bei den ägyptischen Pyramiden
von Gizeh oder von afrikanischen Fundstätten beispielsweise in Äthiopien zu
erlauben. Ihre Sujets verteilt sie auf Land- und Menschheitskarten, die auf das
Zeitlose einer Situation, einer Idee oder einer Begegnung zielen. Man gerät bei
diesen Bildformaten in einen suggestiven Sog, wird selbst Teil dieser
Zwiesprache zwischen Historie und Gegenwart, Individuum und Allgemeinheit. Sie
fordert bei jedem die eigene enzyklopädische Haltung ein, sie macht es uns
darin gerade nicht bequem.
Und so
wandern wir mit ihren bildnerischen Assoziationsketten quer durch die Mythen
und Existenzfragen, durch Werteregister und biblische Erkundungen, durch
Märchen und Kulturen, durch Emotionsfelder und Klima-Weiten, um nichts anderes
zu suchen als den Kern des Lebens, den Punkt der Wahrheit und das Ideal
menschlicher Eigenschaften. Sie hat diesen Nukleus für sich vielleicht schon
gesichtet und gefunden, ohne platt und besserwisserisch uns „mit der Nase“
visuell darauf zu stoßen. Die Sinnsuche ist etwas Allgemeines und Intimes –
daran arbeiten alle Völker, alle Nationen, alle Kulturen. Sich jedoch einen
persönlichen, poetischen und immer fantasievollen Zugang zu dieser Sinnsuche
geschaffen zu haben, das darf diese Künstlerin für sich in Anspruch nehmen. Und
wir bedanken uns bei ihr für die Offenlegung ihrer Geheimnisse und
Entdeckungen. Denn darin liegt die Chance, uns selbst zu finden.
Kunst in
der Apsis einer Sakralarchitektur: Kaum ein Ort eignet sich besser für eine
solche hintergründige Werte- und Sinnbefragung wie dieser. Hier versammeln wir
uns, das meine ich in einer mehrdeutigen Auslegung. Und wenn Gott dieses kontemplative,
lyrische, fantastische oder auch mal dramatische Insistieren gefällt, wird er
sich auf seine einmalige Weise an uns wenden. Helfend, heilend, hoffnungsgebend,
in einem starken positiven Reflex. Oder doch auch nur fragend?
Wir warten
also. Die Menschheit muss, wir müssen diese Zeit des meditativen Wartens
aufbringen. Mag die Zeit des Berufes, des Alltags, des Fortschritts, des zunehmenden
Alterns auch für jeden Einzelnen rasen. Roswitha Petry-Hamann hält in ihren
Bildern die Zeit zumindest vorübergehend als An- und Ausruf an. Für einen
Moment der Rezeption, des Eintauchens, der Selbstbefragung, bestenfalls des
Mit-sich-ins-Reine-Kommens. Sie gibt uns einen Auftrag nach dieser Ausstellung
mit. Das kann durchaus auch mal mit einer geistigen Anstrengung verbunden sein.
Doch dafür entschädigt die vitale Sinnlichkeit ihrer Arbeiten – mindestens.
Ich danke
Ihnen.
Jörg
Loskill, Jahrgang 1944, geboren in Fürstenwalde/Spree; nach dem Studium
(Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Germanistik) 40 Jahre Kulturredakteur bei
der WAZ, Mitarbeiter internationaler Fachmagazine; Dozent an der Kunstakademie
Münster; Herausgeber/ Autor von über 30 Büchern.
Blick in den Kircheninnenraum mit Apsis
Fotos: R. Petry-Hammann/ privat, Andreas Blauth