Sonntag, 2. Juni 2019

Einführungsrede zu Simone Ramshorn










In einer Woche ist Pfingsten, und ich lese kurz aus der Bibel vor:

1 Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle – Apostel – zusammen am selben Ort. 
2 Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. 
3 Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. 
4 Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.


Wie, meine Damen und Herren, würden Sie dieses Geschehen illustrieren, malen, zeichnen, damit es nachvollziehbar ist? Ein paar Gestalten zu zeichnen, auf die sich jeweils ein züngelndes Licht setzt, würde der Sache vermutlich zu wenig gerecht, denn wir stünden ja nur beobachtend am Rand.
Hier geht es aber darum, Energien zu spüren (deswegen finde ich den Begriff Geistkraft treffender), in Hoffnungslosigkeit aufgefunden zu werden, aufzubrechen und Begeisterung zu entwickeln – und darum, trotz scheinbarer Sprachbarrieren verstanden zu werden. Also um gelungene Kommunikation.

„In anderen Sprachen reden … wie der Geist es ihnen eingab“. Es gibt bekanntlich nicht nur die gesprochene Sprache, die Muttersprache, die Fremdsprachen, sondern auch Mimik und Gestik, das Sprechen „zwischen den Zeilen“, die Sprache der Musik oder, in der Kunst, die Bild- und Formensprache. Alles kann zur Kommunikation, zum Verstehen und Verstandenwerden, beitragen.
Und deshalb zeigen wir hier auch so oft und so gern Kunst.
Aber wir sammeln sie nicht an; im ausgehenden Mittelalter geriet der Umgang mit Kunst oft zur protzigen Zurschaustellung. Vor allem die Protestanten haben sich, durchaus verständlich, lange davon distanziert. Bei aller Zurückhaltung wurden aber doch Kirchen ausgemalt und farbige Glasfenster eingesetzt. Farbe wirkt auf den Menschen ein.

Wussten Sie, dass man in einem blau gestrichenen Raum schneller friert als in einem roten, den man bei gleicher Temperatur tatsächlich für wärmer hält? Dass ein apricotfarbener Raum appetitanregend wirkt?
Dass Rot, wenn es sich vor einem befindet, tatsächlich sehr kraftvoll ist, es in der Ferne aber gedämpft erscheint, also deutlich an Leuchtkraft verliert?
Dass Rot eine „Kirchenfarbe“/ liturgische Farbe ist, allerdings die seltenste? So, als würde sie ihre Kraft, ihre Power das ganze Jahr sammeln, um sie in der Pfingstwoche und an ganz wenigen Tagen gleichsam in den Raum zu gießen?

Die Bilder von Simone Ramshorn sind auch sehr kraftvoll. Sie sind voller farblicher Vielfalt und Bewegung. Ich finde, sie kommen der Vorstellung dieses biblischen Brausens schon ziemlich nahe. Das ja, hier wie dort, auf keinen Fall zerstörerisch wirkt, sondern in all seiner Lebhaftigkeit aufbauend, anregend, beseelend. Da tut sich etwas auf, da öffnen sich Räume, in die man neugierig-staunend hineinblickt und hineinspürt. Wir empfinden die Farbtemperaturen, die Energien, wie sie uns fordern und herausfordern.
Simone Ramshorns Bilder sind der informellen Kunst zuzuordnen, die sich eben nicht an sichtbaren, wiedererkennbaren Gegenständen orientiert. Wichtig ist das, was auf der Leinwand geschieht, was durch farb- und formgebende Materialien generiert wird.
Viele verschiedene Farben wirken sinfonisch zusammen, bilden Lebenslandschaften, nicht ganz ohne Schattenflächen; doch die Farben überstrahlen die Dunkelheit.
Die Künstlerin malt zunächst schnell und emotional-gestisch, um dann, nach einigen Tagen, zur Feinarbeit überzugehen, an den Zusammenhängen und Zusammenklängen zu feilen. Farbschichten überlagern sich, und das trägt wiederum zur Dynamik in den Bildern bei. Zu nennen sind hier auch die komplementären Kontraste Rot-Grün und Orange-Blau. In dieser Kombination verstärken sich die Farben noch einmal besonders.
Interessant finde ich, dass die Bilddynamik fast ohne Diagonale auskommt (in einer Bildkomposition die energievolle Richtung). Nur die angedeutete Kreuzform im Apsisbild hat etwas Diagonales, fast Unfertiges, im Werden Begriffenes.
Eine freundliche Dynamik, ein Vorwärtskommen, ja, ein Genesungsprozess: Das haben wohl auch die Auftraggeber so gesehen, deren Klinikräume Simone Ramshorn mit ihren Großformaten ausgestattet hat (Klinik SGM Langenthal/Schweiz).

Zur informellen Kunst, um die es hier wie gesagt geht, möchte ich den Kunsthistoriker und Museumsdirektor Rolf Wedewer zitieren, der sie „im Spannungsfeld von Formauflösung und Formwerdung“ (1) sieht. Diese Beschreibung trifft nicht nur auf unsere aktuellen Bilder zu, sondern korrespondiert auch mit Pfingsten: Das Vergangene löst sich auf, und es formiert sich etwas Neues, eine Gemeinschaft, in der man sich versteht. Egal ob religiös oder nicht: Jeder sehnt sich danach. „Wir verstehen uns nicht“ ist immer eine traurige Angelegenheit. Da kann Muttersprache zur Fremdsprache werden.

Die pfingstliche Thematik liegt uns also näher als wir denken. Interessanterweise ist davon ja auch vieles in unseren ganz alltäglichen Sprachgebrauch eingeflossen: Wir sprechen von kreativen Berufen und von schöpferischen Tätigkeiten, von geistvollen Menschen (oder vom Gegenteil, von Geistlosigkeit), von Inspiriertwerden, von Feuereifer und von Feuertaufen (= Bewährungsproben), wir brennen für etwas, begeistern uns, sind Feuer und Flamme, und haben wir zu wenig Energie, versuchen wir, sie irgendwo zu bekommen, zu tanken.

Farben sind Energieträger, daher ist es gut, sich Kunst anzusehen oder sich damit zu umgeben. Jeder kennt allerdings auch die Energie, die Aufbruchstimmung, wenn sich eine Idee gleichsam aus dem Nichts formiert, wenn sie einem einfällt.
Simone Ramshorn erzählt, dass sie schon als Kind ständig gemalt hat. Ich kenne das auch. Woher kommt das? Woher kommt diese Leidenschaft, aber auch fast unkindliche Geduld?
Letztens nahm ich an einem Künstlergespräch teil, da stellte sich, mal wieder, die Frage, was Kunst ist oder was sie ausmacht. Ist es gutes Handwerk? Sind es ästhetische Qualitäten? Inhalte? Alles zusammen? Eine Künstlerkollegin konstatierte, dass es immer auch einer Art göttlicher Eingabe bedarf, einer Inspiration, die nicht erklärbar ist. Nur so, meinte sie, könne Kunst etwas ausstrahlen, was die Betrachter dann auch erreicht.

Ich hoffe, unsere Ausstellung erreicht Sie in diesem Sinne. Sie ist hiermit eröffnet.

Marlies Blauth

(1) zitiert im Wikipedia-Artikel über informelle Kunst.






Fotos
oben: Simone Ramshorn
unten: Andreas Blauth