MENSCHEN-BILDER
Kunst in der Apsis – Karstjen
Schüffler-Rohde. Zur Einführung
Karstjen Schüffler-Rohde stammt aus Oldenburg, seit Ende der
90er lebt und arbeitet sie in Willich-Schiefbahn. Ihr Studium zur
Diplom-Designerin hat sie an der Muthesius-Hochschule Kiel und in Essen an der
Folkwang-Hochschule absolviert, wo sie bei Willy Fleckhaus graduierte. Sie kann
auf eine ganze Reihe an Einzelausstellungen sowie Ausstellungsbeteiligungen
zurückblicken und ist aktiv im Förderverein Walcker-Orgel der Lutherkirche
Krefeld sowie in verschiedenen künstlerischen und musikalischen Projektgruppen.
Während sie freiberuflich als Designerin und Gesangslehrerin tätig ist, ist ihr
künstlerischer Schwerpunkt die freie Zeichnung und die Malerei.
Heute wollen wir ihrem grafischen Werk ein wenig näherkommen.
Die Zeichnung hatte lange Zeit eine dienende Funktion – sie war der Plan für die Architektur, die Skizze für die Schulung des künstlerischen Auges oder die Vorarbeit für die Malerei.
Angeblich war es niemand geringeres als Leonardo da Vinci, der
die Zeichnung zur eigenständigen künstlerischen Disziplin erhoben hat. Viele
seiner eigenen Grafiken sind zwar anatomische Studien und betrachten insofern
ganz genau den Aufbau eines Körpers oder den Verlauf einer Bewegung. Viele aber
lassen einen deutlich künstlerischen Anstrich erkennen in dem souveränen Umgang
mit den ästhetischen Mitteln, die die Zeichnung uns zur Verfügung stellt – den
Federstreich in Punkt und Linie. In seinen Zeichnungen beispielsweise von
galoppierenden Pferden entwickelt da Vinci seine Federstriche in einer Dynamik
und einem Duktus, der seinen Beobachtungen auf dem Papier den Ausdruck seines künstlerischen
Charakters verleiht. Damit macht er sie zu Zeugnissen desselben – und das ist
doch, was wir eigentlich unter Kunstwerken verstehen.
Karstjen Schüffler-Rohdes Arbeiten stehen in derselben
Tradition. Ihre Werke zeigen, so die Künstlerin selbst, „Menschen in
verschiedenen Situationen“. Ihr geht es um die Mimik, die Gestik und die
Haltung, die Flüchtigkeit eines Augenblicks, der mit ein paar Strichen für
immer festgehalten wird. Betrachten wir ihre Werke, können wir enträtseln, wie
ihr dies gelingt: Sie konzentriert sich auf Umrisse, auf Konturen, weniger auf
die Binnenlinien. Und die Spuren, die Karstjen Schüffler-Rohde auf dem Papier
zieht, sind selten geschlossen – immer wieder finden wir Öffnungen und Durchbrüche
vor. So verleiht sie ihren Figuren eine Offenheit für die Bildwelten, die sie
umgeben – aber auch eine Offenheit für uns, die wir sie betrachten. Ihre Werke
haben keinen Portrait-Charakter – zumindest meinen sie nicht diejenigen, die einmal
der Anlass einer Zeichnung waren, an einem ganz bestimmten Ort, zu einer ganz
bestimmten Zeit. Dazu sind ihre zeichnerischen Schilderungen zu frei – das Gegenteil
im Übrigen von dem, wozu die Zeichnung einmal gedacht war: nämlich beschreiben,
dokumentieren, erklären.
Dies lässt uns nachdenklich werden, und vermuten: Vielmehr als
diese Leute dort von einst meinen Karstjen Schüffler-Rohdes Arbeiten vermutlich
uns, die wir sie betrachten. Schauen wir genauer hin – was sehen wir dort
überhaupt? Wir finden Situationen vor – persönliche wie gemeinschaftliche,
Gespräche und Spaziergänge zum Beispiel, aber auch intime Begegnungen – und
könnten doch nicht mit Bestimmtheit sagen, was dort gerade geschieht. Wohin
spazieren diese Leute? Worüber sprechen sie? Und was geht dabei in ihnen vor?
Das werden wir nicht erfahren. Aber wir können etwas anderes
stattdessen tun: Wir können uns in die Bilder hinein-sehen und eigene
Erlebnisse darin wiederfinden, Gespräche, die wir geführt haben, Spaziergänge
mit Freunden, die vertraute Begegnung mit jemandem, die wir lieben – oder aber Begegnungen,
die schwierig waren, in denen wir nicht übereingekommen sind, den Austausch
vielleicht sogar aufgegeben haben. Wir können also eigene Erinnerungen darin
wiederfinden. Die zurückgenommenen Farben der Werke unterstützen diese
Anmutung. Und so wird aus dem, was da mit ein paar Strichen hingeworfen ist,
mit einem Mal eine ganze Welt – Ihre Welt, meine Welt, je nachdem, wer gerade
vor dem Bild steht. Eine erstaunliche Leistung für ‚nur‘ ein paar Striche. Der
Beweis dafür, dass weniger manchmal tatsächlich mehr ist.
„Interessant für mich ist, was sich hinter einem flüchtig
gesehenen Moment verbirgt“, sagt Karstjen Schüffler-Rohde. „Das einzufangen ist
meine Intention.“ Und genauso sollten wir ihre Bilder lesen – als An-Deutungen,
wie sie selbst es ausdrückt. Ihre Werke lassen uns diese Momente erinnern, die
wir so gut kennen, weil wir sie selbst erlebt haben.
Und damit, dem Erinnern, zu dem die Werke der Künstlerin uns einladen,
passen diese Bilder gut in den Novembermonat, der nun in ein paar Tagen
anbricht. Denn der November ist ein Monat des Gedenkens – wir feiern jetzt Allerheiligen
und Allerseelen, Gedenktage also an Menschen, die vor uns waren, die von uns
gegangen sind. Richten wir unser Augenmerk aber weniger auf den Umstand, dass
sie eben nicht mehr bei uns sind. Blicken wir stattdessen auf das, was sie für
uns bedeuten: Begegnungen, die wir mit ihnen verbinden, Erlebnisse, die wir mit
ihnen teilen, ein Leben vielleicht, an dem wir wechselseitig Anteil hatten. Eigentlich
also erinnern wir uns an das Leben. Das Ende des Kirchenjahres gibt uns Raum, über
diese Dinge nachzudenken. Das Erinnern ist für uns eine Frage zugleich des
Existierens überhaupt. Gewiss, es führt uns die Endlichkeit vor Augen – aber wir
können diese Endlichkeit doch gewissermaßen überwinden. Für die einen löst der
Ausblick auf die Auferstehung das Versprechen ein, das ein Ende nie für immer
ist. Für die anderen sind es die Erinnerungen, die bleiben, die weitergegeben
werden und auch so ein Ende überdauern.
Und noch etwas sollten wir bedenken: Einige der ausgestellten Bilder zeigen Menschen im Gespräch. Sie spiegeln damit wider, wofür Kirchen gedacht sind: Begegnungen zwischen Menschen und den Austausch von Gedanken. Sicherlich geht es dabei manches Mal um das Vergangene – ebenso aber richtet dieser Austausch den Blick auch in die Zukunft. Und es ist Platz genauso auch für das, was nicht so einfach ist, was stört, was trennt. Wenn wir aber die Einladung annehmen, für die eine Kirche steht – und auch Karstjen Schüffler-Rohdes Bilder – ist der erste Schritt getan.
Und so beschenken die Werke der Künstlerin uns gleich doppelt: Wir erinnern uns der Begegnungen, die einmal waren. Aber wir denken auch daran, dass vieles erst noch vor uns liegt, vieles, worauf wir uns noch freuen können. Vieles, das wir gelingen lassen können. Manches davon werden wir miteinander teilen – ob als Erfahrungen, die einander gleichen, als Erfahrungen, die wir miteinander machen, oder im Gespräch darüber, im Austausch, den wir suchen. Das kann genügen, um uns in unserem Gegenüber zu erkennen – wenn wir bereit sind, so genau hinzusehen. Insofern sind diese Werke nicht nur Bilder – sie sind Menschen-Bilder.
Der November also ist ein wunderbarer Monat, um sich in Karstjen
Schüffler-Rohdes Bildwelten hineinzusehen – und die Kirche als Ort des
Miteinander-Sprechens ist dazu der passende Rahmen. Und dazu möchte ich Sie
alle nun einladen: Nehmen Sie diese Einladung an, sich zu erinnern, vielleicht
den einen oder anderen Schatz wiederzufinden, den Sie bereits verloren
glaubten. Genauso aber: Seien Sie gespannt auf das, was da noch kommt.
Dr. Laura Flöter-Fratesi