Liebe Gäste!
Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es
gibt hundert.
(Kurt Tucholsky)
Und gleich noch eine – ungefähre – Zahl: Es gibt Millionen von Farbnuancen, die wir tatsächlich auch unterscheiden können.
Die Wahrnehmung des farbigen Alltags ist allerdings –
scheinbar – so selbstverständlich, dass wir oft nicht genau hinsehen; zur
Verständigung reichen eigentlich die Namen der Grundfarben.
Anders ist es, wenn wir etwas Farbiges aussuchen, sei es ein Kleidungsstück oder etwas für die Wohnung. Dann wird deutlich, dass Rot nicht gleich Rot ist und selbst Schwarz in vielen Ausprägungen vorkommt. Wir erkennen dabei auch, dass verschiedene Materialien, verschiedene Oberflächen in ihrer Farbigkeit unterschiedlich wirken. Es gibt genormte Farben, und trotz gleicher Farbnummer sehen sie – je nach Untergrund – ungleich aus. Plötzlich entdecken wir Details.
Auch Farbveränderungen nehmen wir intensiver wahr. In der Dämmerung ziehen sich die Farben zurück, werden grau, und es gibt Besonderheiten: Rottöne werden plötzlich dunkel, während sich Grüntöne aufhellen. Eine rätselhafte Welt am Abend!
Vor allem aber ist es die jetzige Jahreszeit, der Herbst, der für fulminant sich verändernde Farbeindrücke steht: Die Wälder werden für kurze Zeit bunt, zeigen sich in lodernden Gelb- und Rottönen. Ähnliche Farbwechsel, die uns genau hinsehen lassen, kennen wir von der Reifung der Früchte, deren Färbung bei der Frage, ob man sie schon pflücken und essen sollte, durchaus eine Rolle spielt. Hier ist das Noch-Grüne meistens weniger aromatisch, man wartet lieber noch bis zum Gelb, Orange oder Rot.
Wobei die Äpfel oft „wie gemalt“ oder angemalt
aussehen, wie mit Pinselstrichen.
Und hier bin ich an jenem Schnittpunkt angelangt, der uns zu dieser Ausstellung hier in der Kirche mit Arbeiten von Ingo Helmes führt: Zeit der Ernte – Zeit der Farben.
Ingo Helmes, Jahrgang 1974, ist ausgebildeter Fotograf. In seiner künstlerischen Fotografie – die hier nicht zu sehen ist – geht es ihm auch schon nicht um Abbildungen einer „gewohnten“ Wirklichkeit, sondern er fokussiert Details, Strukturen und Texturen, vielfach aus der Natur, eine Farbe herrscht oft vor. Aus seiner abstrahierenden fotografischen Sicht folgte die Malerei, die er hier nun zeigt: Feine Nuancen bilden sensible Gefüge mit verschiedenem Kolorit. Dabei geht er selbst immer wieder auf Entdeckung: Einfachen Mitteln – das ist ihm wichtig –, einfacher Abtönfarbe „aus dem Baumarkt“ entlockt er ein riesiges Spektrum an Farbigkeit. Ja, es ist die Serie (vor allem im Raum nebenan nachvollziehbar, dort hängen 15 serielle Papierarbeiten). Wie ein Orchester klingt die Gruppe zusammen, während die Einzelbilder alle ihre Eigenheiten haben: Man erkennt die verschiedensten Arten des Farbauftrags – mit dem Pinsel gemalt, gestrichen, getupft; aufgetropft ohne Pinsel; stellenweise wieder abgenommen, abgewischt. Manchmal ist die Farbe deckend, manchmal durchscheinend, also verdünnt aufgebracht.
Nicht immer wird Farbe angemischt (so wie viele es noch aus Schulzeiten mit dem Farbkasten und den Mischnäpfchen kennen). Farbmischungen kann auch unser Auge durchführen – das nennt man dann folgerichtig optische Farbmischung:
Rasterpunkte oder Pixel werden, bei entsprechender Auflösung oder Entfernung (Plakate), als Farbfläche in ihrer Mischfarbe empfunden. Das haben uns Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannten Pointillisten, beispielsweise Seurat und Signac, bereits malerisch vor Augen geführt. Punktartige Farbaufträge in feinen Abstufungen führen zu Licht- und Schatteneindrücken.
Auch nach transparentem Aufbringen von mehreren Farben übereinander nehmen wir die Mischfarbe wahr: Man kennt das Phänomen von farbigen Trinkgläsern, in die ein farbiges Getränk gefüllt wird. Blaues Glas mit Orangensaft: gar nicht gut, wer möchte schon graubraunen Saft trinken? Allerdings finden wir es schön, wenn transparente Papiere, vielleicht zu Sternen und Blüten zusammengeklebt, ans Fenster montiert sind und dort, wo sie übereinander liegen, jeweils eine „neue“ Farbe und so eine oft ungeahnte Vielseitigkeit generieren.
Das sind Prinzipien, die der Künstler Ingo Helmes aufnimmt und erforscht: ihn interessieren Übergänge, Verläufe, Schnittmengen und kleinste Unterschiede und Abweichungen.
Fotografie heißt ja eigentlich „Zeichnen (oder Malen)
mit Licht“ – doch warum sollte es sich allein auf die chemischen Prozesse
beziehen, bei denen sich lichtempfindliche Substanzen wandeln? Wir sagen, dass
man etwas „bei Licht besehen“, also genauer hinschauen sollte. Ingo Helmes
spricht vom Dialog der Farben. Hier, im Kirchenraum, können wir gut die Verbindung
der meist blautonigen Bilder mit der Kirchendecke erkennen. Bilder „sprechen“
ja auch immer mit ihrer Umgebung. Da diese stets auch Farben hat – es gibt ja
sogar unterschiedliche Weißtöne –, ist es nicht nur ein Dialog der Bilder
untereinander, sondern auch mit ihrer Umgebung.
Da der Künstler einen, wie er sagt, minimalistischen Denkansatz verfolgt – er will zum Wesentlichen, Eigentlichen vordringen –, lasse ich die Symbolik der Farben hier weg. Nur so viel: Wir sprechen von warmen und kalten, von düsteren und leuchtenden Farben (nennen letztere auch freundliche Farben). Farben können nicht nur das Temperaturempfinden beeinflussen, sondern auch auf Gesundheit und Krankheit Einfluss nehmen (siehe Axel Buether, der eine Intensivstation farblich umgestaltet hat, woraufhin die Menge bestimmter Medikamente deutlich reduziert werden konnte). Der Weg vom Puristischen zur Farbsymbolik ist also gar nicht so weit, denn Letztere ist ja nicht einfach definiert, sondern hat als Grundlage emotionale und physiologische Menschheitserfahrungen.
Natürlich haben wir den Titel der Ausstellung so gewählt, dass er sich mit dem nahen Erntedankfest verbinden lässt. Ich habe vorhin schon vom Farbwechsel in der herbstlichen Jahreszeit gesprochen, von der Reifung der Früchte, die durch Farbe erkennbar und ablesbar ist.
Für Ingo Helmes ist seine malerische Arbeit aber
zweifellos auch ein Ernten. Auf experimentelle Weise „sät“ er das
Farbmaterial auf den Bildträger, sei es Leinwand, sei es Papier. Während seines
verschiedenartigen Eingreifens – wozu manchmal auch einfach Abwarten gehört –
sieht er ein Bild, eine Bilderserie wachsen und gedeihen.
Und damit auch seine Erkenntnisse, wie Licht und Farbe
auf Räume, auf den Menschen und seine Umgebung, einwirken.
Zum Schluss noch eine Definition. Die Farben aus dem Baumarkt, mit denen Ingo Helmes arbeitet, heißen Dispersionsfarben. In einem Online-Wörterbuch (Google/ Oxford Languages) wird der Begriff der Dispersion so erklärt:
Feinste Verteilung eines Stoffes in einem anderen in der Art, dass seine Teilchen in dem anderen [Stoff] schweben.
Ich glaube, schöner kann man eine Brücke zwischen Technologie und Lyrik kaum bauen – und wollen die Bilder nicht genau das, sich uns mitteilen, in Zeit und Raum schwebend?
Marlies Blauth
Fotos: Ingo Helmes