Freitag, 25. April 2014

Einführungsrede Dina Nur









Dina Nur – Skulpturen


Die Passionszeit hat begonnen –
für viele Menschen ist diese Zeit eine Fastenzeit oder sogar die Fastenzeit.
Dabei geht es gar nicht so sehr um Verzicht, sondern darum, sich durch den Urwald des Überangebotes einen Weg zu bahnen, sich den überladenen Alltag zu strukturieren, um sich auf das Wesentliche des Lebens konzentrieren zu können. Das hat dann immer mit Reduktion zu tun. Wobei die Reduktion ja gar nicht notwendigerweise Armut oder Kargheit bedeuten muss, sondern: re-ducere heißt zurückführen, zurückzuführen auf das Wesentliche.
Genau dieser Gedanke liegt unserer Ausstellung zugrunde.

Dina Nur, die Künstlerin, möchte zum Kern des Menschen durchdringen, zum Eigentlichen, zu dem, was uns alle verbindet. Daher haben ihre Figuren überhaupt nichts Schmückendes an sich, keine Kleidung, keine Frisuren, es ist auch nicht definiert, ob sie weiblich oder männlich sind. Unter anderem liegt die Assoziation zu Totentanz-Darstellungen nahe. Aber eigentlich meint sie es eher als Lebens-Tanz: Sie zeigt uns eine Art plastischer Momentaufnahmen von uns selbst, von uns allen. In der Bibel heißt es: „Gott blies dem Menschen Lebenshauch ein“. Erst damit können wir Momente, Entwicklung, Bewegung, Zeit ja überhaupt erst spüren.

Ton, Beton, Kunststeinmasse – Dina Nur formt ihre Menschengestalten aus solchen Materialien. Das erinnert auch wieder an die Schöpfungsgeschichte: Adam wird aus Erde und Staub – oder auch: Ackerboden – geschaffen (oder aus „Lehm und Schlamm“, heißt es im Koran). Und schon wenig später ist zu lesen: „Zuletzt aber wirst du wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen bist“.

Dina Nur lässt ihre Figuren zwischen diesen beiden Polen „leben“: Sie bringt sie in die Schwebe zwischen Anfang und Ende, zwischen Leben und Tod, zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen ästhetischem Tanz und skurriler Verrenkung, zwischen naturgetreuer Darstellung und Zeichenhaftigkeit.
Ja, gezeichnet in ihrer Körperhaftigkeit, könnte man sagen. Das ist aber neutral gemeint, denn nicht nur Krankheit und Tod „zeichnen“ doch. Dina Nurs Menschen besitzen gleichermaßen Lebenswillen und Trotz, sie scheinen uns das Carpe Diem entgegentanzen zu wollen. Jeder neue Lebenstag zerstört etwas. Aber wir bewegen uns auch, setzen etwas in Bewegung, das wir dem Gedanken der Vergänglichkeit entgegenhalten können.




Dina Nur ist aufgewachsen in zwei Welten: Sie wurde 1963 in Khartoum im Sudan geboren, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Später lebte sie hauptsächlich im Ruhrgebiet, wo sie heute auch ihren Wohnsitz, ihr Atelier hat. Sie empfindet es als großes Glück, „Kunst machen zu dürfen“. Das strahlt auch ihr Atelier aus, erfüllt von fertigen Gestalten und solchen, die noch in Arbeit sind; mit dem Kruzifix an der Wand, das sowohl Zeichen als auch Studienobjekt ist.
Das Atelier ist still und belebt gleichzeitig. Wenn es nicht so winterkalt gewesen wäre, hätte ich mich stundenlang darin aufhalten mögen. Die Menschenskulpturen sind wie alte Bekannte, die man besucht, die über ihr Leben erzählen wollen, aber vielleicht noch nicht ganz so weit sind, weil sie sich erst noch sammeln müssen.
Als Kind sammelte Dina Steine und Knochen. Wir können uns vorstellen, wie sie in deren Nicht-Farben die zartesten Nuancen des Materials entdeckte, wie verschiedene Belichtung und Beleuchtung die Fundstücke „belebte“. Ihre Menschenplastiken baut sie heute so, dass sie ein Gerüst/ Skelett aus Stahl mit steinerner Masse ummantelt.

Wie gesagt, mit Beton, Ton oder Kunststein. Dabei erhält der steinerne Anteil der Skulpturen eine eigenartige Leichtigkeit und Flüchtigkeit, als würden die Figuren gleich aufstehen, aufbrechen, sich befreien, ihre „Bühne“ verlassen, auf der sie vielleicht nur – nur? – Metaphern des Lebens tanzend darstellen. 

Im christlichen Umfeld ist es die Auferstehung, der Gedanke, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Unser „Lehm und Ackerboden“ wird jedenfalls bereitet für die Menschen nach uns.

Wir sind ein Sandkorn in der Wüste, sagt Dina Nur.


Marlies Blauth