Dina
Nur – Skulpturen
Die
Passionszeit hat begonnen –
für
viele Menschen ist diese Zeit eine Fastenzeit oder sogar die Fastenzeit.
Dabei
geht es gar nicht so sehr um Verzicht, sondern darum, sich durch den Urwald des
Überangebotes einen Weg zu bahnen, sich den überladenen Alltag zu strukturieren,
um sich auf das Wesentliche des Lebens konzentrieren zu können. Das hat dann
immer mit Reduktion zu tun. Wobei die Reduktion ja gar nicht notwendigerweise
Armut oder Kargheit bedeuten muss, sondern: re-ducere heißt zurückführen,
zurückzuführen auf das Wesentliche.
Genau
dieser Gedanke liegt unserer Ausstellung zugrunde.
Dina
Nur, die Künstlerin, möchte zum Kern des Menschen durchdringen, zum
Eigentlichen, zu dem, was uns alle verbindet. Daher haben ihre Figuren
überhaupt nichts Schmückendes an sich, keine Kleidung, keine Frisuren, es ist
auch nicht definiert, ob sie weiblich oder männlich sind. Unter anderem liegt
die Assoziation zu Totentanz-Darstellungen nahe. Aber eigentlich meint sie es
eher als Lebens-Tanz: Sie zeigt uns eine Art plastischer Momentaufnahmen von
uns selbst, von uns allen. In der Bibel heißt es: „Gott blies dem Menschen
Lebenshauch ein“. Erst damit können wir Momente, Entwicklung, Bewegung, Zeit ja
überhaupt erst spüren.
Ton,
Beton, Kunststeinmasse – Dina Nur formt ihre Menschengestalten aus solchen
Materialien. Das erinnert auch wieder an die Schöpfungsgeschichte: Adam wird
aus Erde und Staub – oder auch: Ackerboden – geschaffen (oder aus „Lehm und
Schlamm“, heißt es im Koran). Und schon wenig später ist zu lesen: „Zuletzt
aber wirst du wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen bist“.
Dina
Nur lässt ihre Figuren zwischen diesen beiden Polen „leben“: Sie bringt sie in
die Schwebe zwischen Anfang und Ende, zwischen Leben und Tod, zwischen Ruhe und
Bewegung, zwischen ästhetischem Tanz und skurriler Verrenkung, zwischen
naturgetreuer Darstellung und Zeichenhaftigkeit.
Ja,
gezeichnet in ihrer Körperhaftigkeit, könnte man sagen. Das ist aber neutral
gemeint, denn nicht nur Krankheit und Tod „zeichnen“ doch. Dina Nurs Menschen
besitzen gleichermaßen Lebenswillen und Trotz, sie scheinen uns das Carpe Diem entgegentanzen zu wollen.
Jeder neue Lebenstag zerstört etwas. Aber wir bewegen uns auch, setzen etwas in
Bewegung, das wir dem Gedanken der Vergänglichkeit entgegenhalten können.
Dina
Nur ist aufgewachsen in zwei Welten: Sie wurde 1963 in Khartoum im Sudan
geboren, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Später lebte sie
hauptsächlich im Ruhrgebiet, wo sie heute auch ihren Wohnsitz, ihr Atelier hat.
Sie empfindet es als großes Glück, „Kunst machen zu dürfen“. Das strahlt auch
ihr Atelier aus, erfüllt von fertigen Gestalten und solchen, die noch in Arbeit
sind; mit dem Kruzifix an der Wand, das sowohl Zeichen als auch Studienobjekt
ist.
Das
Atelier ist still und belebt gleichzeitig. Wenn es nicht so winterkalt gewesen
wäre, hätte ich mich stundenlang darin aufhalten mögen. Die Menschenskulpturen
sind wie alte Bekannte, die man besucht, die über ihr Leben erzählen wollen,
aber vielleicht noch nicht ganz so weit sind, weil sie sich erst noch sammeln
müssen.
Als
Kind sammelte Dina Steine und Knochen. Wir können uns vorstellen, wie sie in
deren Nicht-Farben die zartesten Nuancen des Materials entdeckte, wie
verschiedene Belichtung und Beleuchtung die Fundstücke „belebte“. Ihre
Menschenplastiken baut sie heute so, dass sie ein Gerüst/ Skelett aus Stahl mit
steinerner Masse ummantelt.
Wie
gesagt, mit Beton, Ton oder Kunststein. Dabei erhält der steinerne Anteil der
Skulpturen eine eigenartige Leichtigkeit und Flüchtigkeit, als würden die
Figuren gleich aufstehen, aufbrechen, sich befreien, ihre „Bühne“ verlassen,
auf der sie vielleicht nur – nur? – Metaphern des Lebens tanzend
darstellen.
Im
christlichen Umfeld ist es die Auferstehung, der Gedanke, dass mit dem Tod
nicht alles vorbei ist. Unser „Lehm und Ackerboden“ wird jedenfalls bereitet
für die Menschen nach uns.
Wir
sind ein Sandkorn in der Wüste, sagt Dina Nur.
Marlies Blauth
Fotos: Andreas Blauth