Donnerstag, 21. Juli 2016

Martin Theis | Gartenlandschaften – Einführung von Stephan Michaeli






Meine Damen und Herren, Herr Pfarrer Neefken, liebe Kirchengemeinde, liebe Kunstfreunde und natürlich liebe Frau Blauth, Herr Müller und lieber Herr Theis!
Herzlichen Dank für die Einladung, hier in Osterath, erneut die Einführung zu einer Vernissage im Rahmen des Projektes „Kunst in der Apsis“ halten zu dürfen.

Die Ausstellung findet diesmal nicht im Kirchenraum, sondern im Gemeindesaal statt, da zur Zeit die Restaurierungsarbeiten an den Glasfenstern der Kirche ausgeführt werden. Dies soll uns nicht weiter stören, auch wenn die aktuelle Gottesdienstbestuhlung dafür sorgt, dass Sie in diesem Augenblick den 11 Ölgemälden von Martin Theis noch überwiegend den Rücken zuwenden. – Das haben die Bilder aber nicht verdient! Ich muss Sie also bitten, den Spagat zu meistern, nicht nur an meinen Lippen zu hängen, sondern zugleich die Bilder zu betrachten.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut…!“, könnte man scherzen; die Situation erinnert uns jedoch auch daran, dass Garten und Landschaft in besonderer Weise auf die praktische Zuwendung eines pflegenden Gärtners bzw. die geistige Zuwendung eines wahrnehmenden Betrachters verwiesen sind.
Und jedes künstlerisch gestaltete Bild, egal ob Foto, Gemälde oder Skulptur, bedarf eines empathischen, d. h. sich einfühlenden und verstehen wollenden Betrachters.
Dies aber bedeutet sehr viel mehr als das Einnehmen einer beliebigen „Rezeptionshaltung“, bei der die Wahrheit alleine „im Auge des Betrachters“ liegt. Es geht darum, dem Werk gerecht zu werden.
„Landschaft“, so lautet eine berühmte Definition, „ist Natur, betrachtet durch ein Temperament.“ Und so möchte ich mich den hier gezeigten „Gartenlandschaften“ zunächst über einige biografische Anmerkungen zu ihrem Schöpfer und dessen künstlerischem Temperament annähern.

Biografie

Martin Theis ist ein wortkarger und nüchterner Typ. Um seine Person macht er nicht viel Aufhebens.
In der Vita, die er mir zuschickte, gibt es keinerlei Angaben zu persönlichen Details: Geburtsort, -datum, Familienstand: Fehlanzeige.
Ohne Umschweife kommt er zum Punkt: „… studierte 1979 – 1985 freie Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie; zunächst im O-Bereich bei Peter Kleemann und belegte dann kontinuierlich Skulptur und Malerei bei Erwin Heerich.“ Gegen Ende des Studiums verbrachte Theis auch ein Jahr mit Gerhard Richter und Gotthard Graubner, deren Einflüsse auf ihn nach eigener Einschätzung jedoch gering blieben. 
Studienbegleitend absolvierte er von 1983 bis 85 eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner und machte sich dann nach dem Studium in diesem Beruf selbstständig.
"Zum Gärtner gehört das Gestalten", sagt er. Und so verbindet Martin Theis den Brotberuf des Gärtners mit seinen verschiedenartigen künstlerischen Interessen: In seinem privaten Garten zeigt er regelmäßig seine Skulpturen. In den Gemälden behandelt er häufig die Themenbereiche „Garten“ und „Landschaften“.
Diesem malerischen Aspekt in seinem Schaffen ist die Sommerausstellung der Reihe „Kunst in der Apsis“ gewidmet. Sie versammelt unter dem Titel „Gartenlandschaften“ elf Ölgemälde mittleren Formats, die alle erst im vergangenen Jahr entstanden sind. Die Ankündigung als „Vernissage“ trifft insofern auch genau den Charakter dieser Ausstellungseröffnung, denn die Werke kommen, quasi noch ungefirnisst, direkt aus dem Atelier in die Öffentlichkeit.

Das Thema der Gartenlandschaften im kirchlichen Jahreskreis

Im kirchlichen Kontext verbindet sich die Auswahl des Themas „Gartenlandschaften“ für diese Sommerausstellung zunächst sehr naheliegend mit der Dominanz der liturgischen Farbe Grün in der feiertagslosen Zeit nach Trinitatis.
Doch auch im Jahreskreis des Gärtnerns findet die Ausstellung ihren sinnvollen Platz: Vor zweieinhalb Wochen war der Johannistag, ein Heiligenfest, das gleichsam am Höhepunkt des astronomischen Jahres den Beginn der kürzer werdenden Tage nach der Sommer-Tagundnachtgleiche markiert und das im bäuerlichen Kalender namensgebend ist für den sogenannten „Johannistrieb“. Das ist der sommerliche zweite Austrieb der Pflanzen, auf den üblicherweise eine ganze Reihe von Arbeitsgängen des Beschneidens, Zurückbindens und Ordnens im Garten folgt.
Wachstumsdynamik, das Begrenzen von Bewegungen und strukturierendes Ordnen sind aber auch ganz wesentliche Motive in den Bildschöpfungen von Martin Theis’ malerischen „Gartenlandschaften“.
Und so möchte ich über den gegenständlich-thematischen Aspekt der Bilder hinaus Ihren Blick vor allem auf die Eigenheiten der bildnerischen Gestaltung lenken.
Nicht zufällig finden sich hier in allen gezeigten Arbeiten unterschiedlichste Wege-Elemente mit ihren jeweiligen Eigenschaften: linear sich weit hinziehend, flächig sich ausbreitend, sanft kurvend, scharf abknickend, mal als kurzer Abschnitt ohne erkennbares Woher und Wohin, dann als scharfes Raster fast gewaltsam in die Landschaft hineingeschnitten, zuletzt kaum ahnbar als Pfad, der erst noch durch das blühende Dickicht eines üppig wuchernden Gartens gebahnt werden will.
All diese Eigenschaften gehen ein in eine Gesamtstimmung der Bilder, die jeweils sehr stark getragen wird von der Farbigkeit einerseits, aber auch der Rhythmik andererseits, von Engungen und Weitungen der Linien, Flecken, Flächen, welche teils impressionistisch locker, dann wieder flächig fest gefügt im Bild erscheinen.
So entsteht ein hochgestimmter Zusammenklang von Momenten der Bewegtheit und des Innehaltens, der auch jenseits der gegenständlichen Bildelemente sich gut beziehen lässt auf diesen sommerlichen Wendepunkt des Jahres, kurz vor der Urlaubszeit mit ihrer Aussicht auf Rückschau und Entspannung, auf dem Höhepunkt von üppigem Wachstum und Blüte kurz vor ihrem Umschlag in die sanfte Melancholie des Spätsommers und beginnenden Herbstes.

Erinnerungsbilder und Seelenlandschaften

Bis hierher habe ich eine Reihe von eher außerkünstlerischen, z. B. biografischen und vor allem vom thematischen Gegenstand her aufgefassten Aspekten genannt, die zur Auswahl des Künstlers und seiner Gemälde für diese Ausstellung geführt haben.
Was aber lässt sich künstlerisch über diese Bilder sagen, die hinsichtlich ihrer Gegenständlichkeit und ihrer an der klassischen Moderne orientierten Farbigkeit auf den ersten Blick eher konventionell wirken?

Dazu möchte ich zunächst jenes Gemälde näher betrachten, das auch für die Einladungskarte verwendet wurde. Es ist nach mehreren Hinsichten aufschlussreich.
In seiner fleckigen Struktur farbiger Tupfen wirkt es zunächst sehr impressionistisch; dieser Eindruck wirkt noch verstärkt durch die Tatsache, dass sich Gruppen von Punkten und Tupfen an einigen Stellen zu ausgedehnten Flächen, an anderen Stellen zu Lineaments zusammenschließen und sich so in der Zusammenschau, einerseits schemenhaft und doch mit unabweisbarer Gewissheit, der Eindruck eines landschaftlichen Ensembles ergibt; mit einem hellen Feldweg mit grünem Mittelstreifen, flankierenden Baumreihen und lichtdurchfluteten Durchblicken in die Weite der (allerdings) kaum zu ahnenden Felder.
In das Landschaftsgrün mischen sich naturferne bläulich-violette Schatten, die sich mitunter wie Balken über das Motiv des Weges legen, und allmählich stellen sich zunehmend Irritationen der Wahrnehmung ein.
Im Zentrum des Bildes isoliert sich der abgeschnürte fernere Teil des Weges zu einer verselbständigten Kreuzfigur, die wie die Aufsicht eines Wegekreuzes wirkt und stark in die Bildfläche drängt. Damit erscheint der Mittelgrund wie von einem sehr hohen fernen Betrachterstandpunkt aus betrachtet. Der rötliche Baum auf der rechten Seite dagegen verharrt in seiner Frontalansicht. Die Perspektiven beginnen sich zu dissoziieren. Der Betrachter gerät in eine schwebende, unklare Position gegenüber dem Bildraum. Der grauviolette Schatten am rechten Wegrand wirkt wie eine schemenhafte verselbständigte Figur. Fantasieleistung kompensiert die Verunsicherung des Orientierungssinnes.
Auf dieses Phänomen angesprochen, bestätigt Theis: „Meine Gemälde sind Seelenbilder“, und bei anderer Gelegenheit nennt er sie „Erinnerungsbilder“; es sind häufig gesehene Landschaftseindrücke, die er aus der Erinnerung – mitunter auch gestützt durch Fotografien – rekonstruiert.
Im Unterschied zum klassischen Impressionismus, der den subjektiven Landschaftseindruck systematisch in lichthafte Farbpartikel zu zerlegen sucht, also analytisch vorgeht, könnte man daher bei Theis von einer Art synthetischem Impressionismus sprechen, der die durch konkrete Kunst und abstrakte Farbfeldmalerei hindurchgegangenen Gestaltungsmöglichkeiten zu einer an klassischen Vorbildern erneuerten Gegenständlichkeit rekombiniert.
Darin steht er seinen akademischen Lehrern aus Düsseldorf am Ende womöglich doch auch wesentlich näher, als er vielleicht selbst zu glauben geneigt ist.

Eine Klassifizierung als „impressionistisch“ alleine auf der Grundlage der farbigen Fleckenstruktur würde jedoch zu kurz greifen, und es erscheint mir daher angebracht, in einem kleinen Einschub noch einige weitere Aspekte kurz anzusprechen.
Betrachtet man die antinaturalistische Farbigkeit, insbesondere die Dominanz des Grün-Violett-Klanges mit gelegentlichen Beiklängen von Rosa, Rot oder Orange, so steht diese ganz eindeutig in der Tradition expressionistischer Malerei, vom frühen Paul Gauguin bis zum späten Ernst-Ludwig Kirchner der späten 20er Jahre. Mit Gauguin vergleichbar ist auch das synthetisch-surrealistische Zusammenfügen gegenständlicher Naturmotive mit einer expressiven, sich flächenhaft ausbreitenden Farbigkeit. (Vor allem hinsichtlich seiner Skulpturen, die in dieser Ausstellung allerdings nicht vertreten sind, scheint mir ein enger Zusammenhang mit Gauguin gegeben zu sein.)
Im Unterschied aber zu Gauguin und den Malern der Klassischen Moderne, die sich auf dem Weg in die Abstraktion zunehmend von tradierten Formen der Gegenständlichkeit zu lösen versuchten, malt Theis vor einem ganz anderen historischen Hintergrund, nämlich aus einer Position heraus, die bereits lange nach dem Durchgang, durch die vollständige Abstraktion liegt.
Um dies besser zu verstehen, weise ich auf das zweite Bild, betitelt „Sommerweg“, hin, wo die breiten violetten Schatten unvermittelt in eine Sequenz grüner Blockstreifen übergeht. Gegenständlich motiviert ist dieser Streifen als Farbwechsel der Schatten im Gelände; für sich betrachtet aber könnte es auch ein abstraktes Streifenmuster konkreter Kunst sein.

Sein synthetisches Prinzip könnte man insofern auch noch etwas genauer als „konstruktiv“ beschreiben. Ich meine damit die Tatsache, dass er aus letztlich rein abstrakten Struktureinheiten eine Gegenständlichkeit konstruiert, die sich nicht mit einer Attitüde der Künstlichkeit begnügt, sondern seinen Gegenständen eine eigene Stimmung oder naturhafte Beseeltheit mitteilt.

Landschaften zwischen „geometrischer Abstraktion“ und „neuer Figuration“.

Um dies noch etwas weiter zu verdeutlichen, möchte ich auf die beiden Pole zwischen „geometrischer Abstraktion“ und „neuer Figuration“ eingehen, zwischen denen sich die Arbeiten von Martin Theis bewegen.
Dies ermöglicht es uns dann in einem zweiten Schritt, ihn etwas genauer zwischen den Malern seiner Generation einzuordnen.
Auf der einen Seite finden sich Landschaften, deren Charakter durch menschliche Eingriffe in die Natur geprägt ist: Einzäunungen, Wegenetze überformen die Naturwüchsigkeit mit geometrischen Mustern.
Dies kann einerseits sehr harmonisch wirken, wie in der Hügellandschaft mit Dorfstruktur („Stilles Dorf“, 2015), kann aber auch zu schroffen Gegensätzen geführt werden.
Am schärfsten ausgeprägt ist dies bei der Stadtvedute von Düsseldorf („Düsseldorf“, 2015, 50 cm x 80 cm), wo sich breite Betonpisten geradezu in die Rheinauen hineinfressen und eine eher düstere bis lebensfeindliche Gestimmtheit vermitteln.
Auf der anderen Seite findet sich die kleine quadratische Gartenlandschaft mit roter Gartenstatuette („Garten mit roter Figur“, 2015, 50 cm x 50 cm).
Inmitten eines Gartenstücks über dessen Heckenrand der Blick in die Ferne schweift, steht auf einem Rasengeviert ein steinerner Sockel mit einer leuchtend roten Gartenskulptur. Es handelt sich um eine weibliche Figurine mit ausgebreiteten Armen, möglicherweise um eine Tänzerin. Den Eindruck einer fröhlichen Rhythmik verstärkt nicht zuletzt das Echo ihres Schattenwurfs auf dem Rasen, am Fuße ihres Sockelsteins. In den ansonsten scheinbar menschenleeren Gärten und Landschaften auf Theis’ Gemälden ist dies die einzige menschliche Gestalt, die auftaucht, wenngleich auch selbst nur wieder als indirektes – das heißt im Kunstwerk vermitteltes – Abbild menschlicher Gegenwart. In der tänzerischen Haltung und der schreiend roten Farbe darf man wohl eine subtile Anspielung auf den avantgardistischen Wandzyklus „Der Tanz“ von Henri Matisse vermuten, den dieser 1912 für den russischen Mäzen Schtschoukin entworfen hat. Hier allerdings in eine Einzelfigur und ins Freie eines Gartens transponiert.
Zugleich drängt sich mir dabei der Vergleich mit einem Programmbild von Peter Angermann im Kaiser-Wilhelm-Museum (Krefeld) auf, betitelt „Landschaft mit Joseph Beuys als blindem Fleck….“, worin der karikaturhafte Umriss von Joseph Beuys als eine ebenso leuchtend rote Aussparung im pastosen Farbauftrag einer Landschaft erscheint und der so angesprochene auch noch in der Abwesenheit als Motor des Wahrnehmungsprozesses charakterisiert wird. Bei Angermann ist dabei die Landschaft jedoch nur noch als historisch überholtes Klischee in ironischer Brechung, im bitterbösen oder sarkastischen Comic oder in der nostalgischen Kinderbuchillustration möglich.

Ein weiterer Altersgenosse dieser Malergeneration ist Michael van Ofen. Von ihm gibt es ebenfalls im Kaiser-Wilhelm-Museum eine Landschaft,  die nunmehr dem anderen Pol der Gemälde von Theis zu vergleichen ist. (Also den geometrisierenden Landschaften.) Bei van Ofen wird radikal die Auflösung aller Landschaftselemente in reine Geometrie betrieben.
Er geht darin deutlich weiter als Theis. Damit verbunden ist dann allerdings auch die Preisgabe der Landschaft als ein eigenständig gestaltetes Abbild von Natur. Die Landschaft wird zum reinen Ausgangsmaterial des künstlerischen Prozesses.

Zwischen diesen beiden Extrempositionen spannt Martin Theis ein eigenes weites Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten aus, ohne den eigentlichen gegenständlichen Kern seiner Gartenlandschaften preiszugeben. Dieses knorrige Beharren auf den Eigenwertigkeiten von Landschaft und Natur als objektivierendem Gegenüber der künstlerischen und schöpfenden Persönlichkeit entspricht vielleicht nicht dem allgemeinen Zeitgeist, ist aber menschlich zutiefst sympathisch und von großer Ehrfurcht vor der Natur getragen.
Und trotz des im Grunde strukturbetonten und konstruktiven Malverfahrens, sind die Bilder in einem fast altertümlichen Sinne komponiert.

Daher möchte ich mit einem Zitat aus der „Philosophie der Landschaft“ (1913) des großen Kulturphilosophen Georg Simmel enden, das auch nach einhundert Jahren seine Gültigkeit nicht verloren hat:
„Wo wir wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi.“



Stephan Michaeli






Stephan Michaeli ist Kunsthistoriker und macht Museumsführungen in der Burg Linn und im Deutschen Textilmuseum, Krefeld





Foto: Marlies Blauth