Donnerstag, 1. Mai 2014

Einführungsrede Traute Kessler













Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr.-Ing. Ortwin Peithmann dürfen wir seine Einführungsrede zur Ausstellung Traute Kessler – Weiß in Weiß an dieser Stelle veröffentlichen:



"Meine Aufgabe ist es, Ihnen eine Einführung zur Person und zu den ausgestellten Arbeiten von Traute Kessler zu geben.

Zunächst zur Person:
Traute Kessler hat Kindheit und Jugend an der Nordsee verbracht, auf der Insel Sylt. Ihr ästhetisches Empfinden ist von den visuellen Elementen des Küstensaumes mit Wasser, Wellen, Sand und Dünen geprägt worden. Ich komme darauf bei den Erläuterungen zu ihren Arbeiten zurück.

Die Künstlerin gründet die Professionalität ihrer Arbeit nach einer Handweblehre auf Sylt auf drei Ausbildungsphasen, in denen sie von prägenden Persönlichkeiten im Rheinland und in Westfalen angeleitet wurde:
– Grundlegend war das Studium des Textildesigns bei Prof. Barbara Schu an der Textilingenieurschule in Krefeld.
– Sie hat darüber hinaus Kunstgeschichte bei Prof. Georg Schwarzbauer studiert.  – In den Techniken der Papierbearbeitung durch Aquarell und Zeichnung wurde sie von dem Hagener Künstler Helwig Pütter unterrichtet.

Sie hat den Beruf der Textildesignerin in verschiedenen Ateliers ausüben können.

Ihre zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland erwähne ich hier nicht.

Zur Person von Traute Kessler gehört ihre Mitgliedschaft im Bund Bildender Künstler HAGENRING e. V., dort wirkt sie seit vielen Jahren mit. Als Vorstandsmitglied übt sie das Amt der Schriftführerin aus.

Ich gebe einen Hinweis auf eine besondere parallel laufende Ausstellung, in der Sie weitere Arbeiten von Traute Kessler sehen können: Die Ausstellung zum Jubiläum des Vereins HAGENRING, der in diesem Jahre sein neunzigjähriges Bestehen feiert. Und ich gebe eine kurze Erläuterung dazu:

Am Anfang der Gründung des HAGENRING im Jahr 1924 stand ein Ende, nämlich das Ende des „Museums Folkwang“ am Standort Hagen. Karl-Ernst-Osthaus hatte dieses Museum zum Beginn des letzten Jahrhunderts dort errichtet. Das Museum
Folkwang bildete Ausstellungsräume und Sammlung des Mäzen Osthaus unmittelbar nach der vorletzten Jahrhundertwende. Diese Phase der deutschen Kunst- und Museumsgeschichte wird heute mit dem Begriff „Hagener Impuls“ bezeichnet.

Osthaus starb im Jahr 1921. Die Erben wollten sein Werk zu Geld machen. Die Stadt Essen konnte die Sammlung von der Witwe des Mäzens im Jahr 1922 im Wettbewerb mit der Stadt Hagen als Meistbietende erwerben.

Eine Künstlergruppe um den Maler Christian Rohlfs gründete den HAGENRING 1924 in trotziger Reaktion darauf: mit dem Wegkaufen der Sammlung Folkwang durch eine reichere, größere Stadt, sollte der künstlerische Aufbruch in Hagen nicht beendet werden. So entstand eine der ältesten Künstlerververeinigungen in
Deutschland. 

Aus Anlass des Jubiläums stellt der HAGENRING noch bis zum 4. Mai Arbeiten seiner Mitglieder im Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen aus. Infomaterial liegt für Sie aus.

Nun aber zurück zu Traute Kessler!

Ein Paar Worte zu Material und Technik der hier ausgestellten Arbeiten.

Die gezeigten Werke bestehen aus Schichten von verschiedenen Papieren, Pergamentpapier, Packpapier, Seidenpapier und ganz überwiegend Aquarellpapier in unterschiedlichen Körnungen. Die Stärke und Faserstruktur des Aquarellpapiers faszinieren die Künstlerin und zugleich die Betrachter ihrer Arbeiten. 

Ihre zentrale Technik der Bearbeitung dieser Papiere ist das Reißen.
Das Wort deutet auf Zerstörung, Entledigung, Ablehnung. Für Traute Kessler ist es aber genau das Gegenteil: behutsame, einfühlsame Formgebung für Papierkanten. Sie verschont das kostbare Aquarellpapier vor Messer oder Schere und formt es mit ihren Händen. Daraus entstehen Reißkanten, die in ihrer Breite
variieren, manche sind bis zu zwei Zentimeter breit. Die Kanten, die wie ein Zufallsprodukt aussehen, sind gezielt gerissen, hier waltet kein Probierprozess, Traute Kessler lässt keinen Raum für den Zufall. Die Risslinien – nahezu parallel oder in spitzen Winkeln zueinander verlaufend – bilden ein geplantes ästhetisches Muster.

Diese Ausstellung heißt "Weiß in Weiß". Dennoch sehen wir Farben in sparsamer Verwendung. Traute Kessler erläutert das im aktuellen Jubiläums-Katalog des HAGENRING so:
'In meinen Arbeiten spielen Farben eine wichtige Rolle, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Aber neben den Aquarellfarben, die – meist sparsam – zur Flächengestaltung beitragen, sind es die Farbtöne und Strukturen des weißen Papiers, die durch Schichtungen ein fast dreidimensionales Bild ergeben.
Das Papier ist nicht mehr Bildträger, sondern farb- und flächengestaltendes Material mit eigener Aussage.'

Ich ergänze das mit zwei Aspekten:
– Erstens die Farbe der verschiedenen Papiere. Pergamentpapier über Aquarellpapier liefert einen zarten Grauton, Packpapier bringt Flächenanteile in Braun und Ocker ein.
– Zweitens begegnen uns grauschwarze durchscheinende Musterungen. Diese Bildeffekte entstehen durch Zusammenfalten, Knüllen des Papiers in feuchtem Zustand und durch gezieltes Aufbringen von Farbpigmenten. Das anschließende getrocknete und geglättete Papier wirkt wie Naturfotografie: wir sehen Ähnlichkeiten mit Astwerk, Gespinst oder Gewebe.

Neben den Farben lassen Licht und Schatten in den Arbeiten von Traute Kessler ein breites Spektrum von Bildwirkungen entstehen:

Die Papierschichten liegen nicht plan aufeinander, zwischen ihnen gibt es Räume, über die – unterstützt durch Licht, das in flachem Winkel auffällt – der Eindruck eines Reliefs entsteht.

Die gerissenen Kanten werfen Schatten. Das hebt die Geometrie der Kante und ihren harmonischen Verlauf im Bezug zu anderen Kanten hervor. 

Wo die Papiere rückseitig eingefärbt sind, strahlt ihre Farbe zurück auf die dahinter liegende Betrachtungsebene. Durch die Variation im Abstand der Papiere zueinander entstehen zartfarbige sanfte Farbübergänge ohne jede Stufung.

Wo Licht zwischen weiße Papierschichten einfällt, wird seine Leuchtwirkung durch mehrfache Reflektion gesteigert und bringt die Risskanten förmlich zum Leuchten, sie wirken dann wie eigenständige Lichtquellen.

Die Bilder hängen im Altarraum besonders günstig, um ihre Reliefstruktur zu entfalten. Das seitlich von Süden einfallende Licht unterstützt die Wahrnehmung der Tiefe in den Bildern.
In der sparsamen Verwendung von Farbe, in der Konzentration auf die Wirkung von Licht und Schatten und in der Betonung von Rändern drücken sich die prägenden Seherfahrungen der Künstlerin aus ihrer Jugend auf der Insel aus.
– Die sparsame Vegetation der Küstenränder bietet weniger Farbigkeit als im Binnenland.
– Licht und Schatten haben demgegenüber an der Küste eine viel größere Wirksamkeit: Licht reflektiert an der Meeresoberfläche und verstärkt sich. Die flachen Winkel, mit denen das Licht in den Tagesrandzeiten auffallen kann,
überhöhen die Schattenwirkungen, sie machen feinste Unterschiede im Relief sichtbar, z. B. in den Wellen, den Riffelungen im Sand oder den Erhebungen von Muscheln und Strandgut.
– Der Spülsaum des auf den Strand auflaufenden Wasser oder die Ränder vom Sandkörper der Dünen zum Strandhafer lassen vielfältige sich dynamisch verändernde Randlinien sehen. 

Die Arbeiten von Traute Kessler nehmen alle diese Formelemente auf.



Nun zu Inhalt und Deutung:

Die Arbeiten sind grundsätzlich abstrakt. 
Die Künstlerin hilft uns nicht durch die Angabe von Titeln auf dem Weg zum Verständnis ihrer Arbeiten. Wir müssen – oder besser: dürfen – uns die Wirkung ihrer Arbeiten auf uns ganz frei erschließen.

Die Anordnung der Papierschichten mit ihren gerissenen Rändern grenzt die Wirkung auf uns jedoch – wie ich meine – in inhaltlich frappanter Weise ein und verstärkt sie dabei zugleich. Gerissenes ist Zerstörtes, für den Betrachter vielleicht sogar Verstörendes, auch wenn die Komposition im Ganzen Zart und unschuldig wirkt und wenn wir wissen, mit welcher Zärtlichkeit Traute Kessler ihr Aquarellpapier behandelt. Die Bilder lassen offen, ob hier Prozesse des Aufbrechens, des ersehnten Entstehens – wie bei Knospen jetzt in derFrühlingszeit – dargestellt werden oder ob die Risse die Folge von Verletzung und damit der Teil von Zerstörung sind. Zumeist öffnen sich die aufgerissenen Flächen nach oben und verheißen damit positive Öffnung, Wachsen.

Schichten, deren Übereinanderliegen erkennbar ist und die durch das Reißen in einem Prozess der Freilegung der tieferen Schichten sind, sprechen in starker Symbolik die Sichtweise des Entdeckens an. So erkläre ich mir die kraftvolle Unmittelbarkeit im Erleben dieser Arbeiten: sie sind Symbol für Neugier. 

Entdecken bedeutet, verdeckende Schichten über einem Gegenstand des Interesses beiseite zu schieben. Es erinnert an die Arbeit von Archäologen, die Schicht für Schicht von Menschenwerk aus vergangenen Jahrhunderten beiseite räumen. Oder an die Arbeit von Geologen, die der Entstehung der Erdschichten über Jahrmillionen auf den Grund gehen. Es erinnert auch an die Arbeit des Chirurgen, des Präparators oder allgemein des Naturforschers. 

Wir können aber den Entdeckerdrang auch anders interpretieren. Wenn wir aus der wissenschaftlichen Neugier heraus weitergehen zur Neugier des Gefühls: zu Begierde und Versuchung. Dann sind wir in der Symbolik des lustvollen Enthüllens. Finden Sie selbst heraus, ob Ihre Lustgefühle sich durch Abstraktion ansprechen lassen.

Das Entdecken als Prozess impliziert die Dimension der Zeit:
Entdecken kann sich auch auf den Umgang mit Vergangenheit beziehen, wenn es gilt, Schichten des Vergessens beiseite zu schieben und Vergangenes aus der Erinnerung zu holen, zu klären, was womöglich lange vergraben war. Mit einem solchen Verständnis unseres Gedächtnisses bei der Beschäftigung mit der eigenen, ganz persönlichen Vergangenheit arbeitet die Psychoanalyse. Günter Grass betitelte seine 2006 erschienene Biographie "Beim Häuten der Zwiebel". Das Häuten ähnelt dem Ergebnis bei Traute Kessler, obwohl sie umgekehrt vorgegangen ist, Schicht um Schicht übereinander gelegt hat.

Durchgängig ohne Angabe von Titeln lassen sich in einzelnen Arbeiten gegenständliche Motive ausmachen, die wiederum die Verbundenheit der Künstlerin mit der Küste erkennen lassen: 

Das Bild auf der Einladungskarte zeigt die Silhouetten von Schiffsrümpfen in Verbindung mit den aus dem Bild nach vorn und unten hervortretenden Papierrollen. Das sind Poller, an denen die Schiffe fest gemacht werden. 

Auf dem Bild mit den beiden länglichen schwarzen Klecksen können Sie Wanderer erkennen, die sich schräg gegen den Wind an der Küste lehnen. 

Diese von mir vorgetragenen Deutungshinweise sind ortsunabhängig gültig. 

Hinweise auf die Konnotation mit dem Ort dieser Ausstellung können das Verständnis ergänzen:

Hier im konkreten Raum einer Kirche bieten sich weitere Bezüge an. Die Öffnung der Bilder im Altarraum nach oben kann auf die Transzendenz zum Himmlischen verweisen.

Die Farbe „Weiß“ passt zur aktuellen Phase des Kirchenjahres.
– Sie steht im Farbenkreis des evangelischen Kirchenjahres
zwischen Ostern und Pfingsten.
– Weiß ist die Christusfarbe.
– Weiß ist die Farbe der Gewänder der an Ostern Getauften.
– Dem Heiligen Geist, der zum bevorstehenden Pfingstfest auf die Menschen ausgegossen wird, ist die Weiße Taube als Symbol zugeordnet.

Weiß steht im religiösen Verständnis auch für Jugend, Werden und Unschuld. Zur Hochzeit tragen Mädchen und Frauen Weiß.

Weiß ist die Farbe der Freude und des Glücks. Die Ausstellung könnte nicht passender terminiert sein. Sie reicht in den Wonnemonat Mai hinein.

Ich überlasse Sie jetzt Ihrer persönlichen Wonne beim Betrachten der Arbeiten aus der Nähe."



Dr. Ortwin Peithmann, April 2014





 Fotos: Andreas Blauth